Rezension

Ein fiktiver Roman, in dem immer auch ein wenig fürchterliche Wahrheit mitschwingt

Eine allgemeine Theorie des Vergessens - José Eduardo Agualusa

Eine allgemeine Theorie des Vergessens
von José Eduardo Agualusa

Bewertet mit 3 Sternen

Aufmerksam wurde ich auf diesen Roman, weil er in einem Land spielt, über das ich bislang im Rahmen meiner BUCHweltreise noch nichts gelesen habe. Klingt auf den ersten Blick simpel und unspektakulär, bedeutet aber bei genauem Hinsehen so viel mehr. Denn dieses Projekt erweitert die Auswahl der zu lesenden Bücher auf eine für mich ungewöhnliche Weise und hat mich bereits ein ums andere Mal aus meiner Lesekomfortzone herausgeholt, indem es mir Geschichten von Menschen aus anderen Kulturen präsentiert und Einblicke in Politik und Geschichte von Ländern gewährt, von denen ich oft nicht viel mehr weiß, als dass es sie gibt. Dieses Mal stieß ich dabei auf einen Roman, der sich für mich ein wenig sperrig las, der jedoch ungewöhnlich daher kam und bei dem sich die einzelnen zum Teil kuriosen Informationen nach und nach wie Puzzle-Teile zu einem großen Gesamtbild zusammenfügten.

José Eduardo Agualusa erzählt in seinem Roman „Eine allgemeine Theorie des Vergessens“ vom Wandel und von den Wunden seiner Heimat Angola, indem er eine fantastische und doch ganz und gar wahre Geschichte rund um die junge Ludovica webt, die sich für dreißig Jahre in ihrer Wohnung einmauert, nachdem sie am Vorabend der angolanischen Revolution einen Einbrecher in Notwehr erschossen hat.

Bereits im Vorwort erfährt man, dass der Autor hierfür die Kopien von den zehn Heften, in denen Ludo Tagebuch geführt hatte mitsamt den zahlreichen Fotografien von Ludos Texten und Kohlezeichnungen an den Wänden ihrer Wohnung als Grundlage dafür nahm, ihr Drama nachzuempfinden und einen fiktiven Roman daraus zu machen.

Nach und nach erfährt man in dem Buch die Geschichte der zurückhaltenden und sehr ängstlichen Ludo und was sie so handeln lässt, wie sie letztlich tut. Man erlebt ihre Zeit der Selbstisolation und wie sie diese übersteht. Allmählich offenbart sich so das ganze Ausmaß ihrer Lebensgeschichte mitsamt seiner von gesellschaftlichen Konventionen geprägten Tragik.

Aber auch das Leben außerhalb ihrer Mauern geht weiter und obwohl Ludo isoliert lebt, hat ihr spartanisches Leben dennoch Auswirkungen auf ihre Umgebung und somit auf andere Menschen. Auch davon erzählt der Autor und fügt der Geschichte immer wieder neue Teile hinzu, indem er Personen und Geschehnisse näher beleuchtet. So ergibt sich am Ende ein großes Gesamtbild, in dem sämtliche Beziehungen untereinander klar und  Erzählstränge geschlossen werden, bis keine Fragen mehr übrig bleiben.

Tatsächlich waren es für mich manchmal zu viele Personen, die sich den Platz in diesem knapp 208 Seiten starken Buch teilen müssen und manchmal doch eher blass bleiben. Das sorgte neben den fremdklingenden Bezeichnungen dafür, dass ich manchmal den Überblick zu verlieren drohte. Die im Anhang aufgelisteten Ortsnamen und das Verzeichnis mit den Begriffen und Personen konnten hier ein wenig Abhilfe schaffen. Auch war es für mich hilfreich, da ich von Angola nicht viel mehr wusste, als dass es ein Land in Afrika ist, mich gleich zu Anfang des Buches zunächst ein wenig mit der Geschichte Angolas zu beschäftigen, um das Gelesene besser einordnen zu können.

„In den Monaten nach der Unabhängigkeit sah er die Tragödien, die er vorausgesagt hatte, eine nach der anderen eintreten: die Flucht der Kolonisten und eines Großteils der einheimischen Bourgeoisie, die Schließung der Fabriken und kleiner Geschäfte, den Zusammenbruch der Wasserversorgung, der Stromversorgung, der Müllabfuhr, die Massenfestnahmen, Erschießungen.“ (S. 171)

Der Autor nimmt einen mit in diese Zeit voller Ungerechtigkeit und Brutalität, die man sich als Fiktion wünscht, in der jedoch immer auch ein wenig fürchterliche Wahrheit mitschwingt.

„Schüsse auf der Straße, ganz nah. Schüsse ziehen Schüsse an. Ein Schuss in die Luft, und schon folgen Dutzende nach. In einem Land, in dem Krieg herrscht, genügt ein Knall. Der kaputte Auspuff eines Autos. Eine Feuerwerksrakete. Irgendwas.“ (S. 23)

„Eine allgemeine Theorie des Vergessens“ stand auf der Shortlist des Man Booker International Prize 2016 und wurde 2017 mit dem Internationale Dublin Literary Award ausgezeichnet.