Rezension

Ein folgenschwerer Webfehler

Nicht mehr ich - Doris Wagner

Nicht mehr ich
von Doris Wagner

Bewertet mit 5 Sternen

Dieser Rezension muss ich vorausschicken, dass ich selber zwar gläubig, aber nicht katholisch bin, dass ich aber bei meiner Pilgerschaft auf dem Jakobsweg so viel wunderbare Gastfreundschaft von Katholiken erlebt habe, dass es für mich schon aus diesem Grunde nicht geht, empört mit dem Finger auf "die anderen" zu zeigen. Obwohl die Empörung unweigerlich kommt. Denn was Doris Wagner hier schreibt, empört unendlich. Aber auch sie legt großen Wert darauf, mit diesem Buch keine "Abrechnung" vorzulegen, sondern das offenzulegen, was dringend auf den Tisch muss, damit Erneuerung überhaupt möglich ist. Ziel des Buches sei es, "die Dynamik von Ideologie, Manipulation, und Missbrauch zu veranschaulichen". Und das ist ihr in eindrucksvoller Weise gelungen.

Doris Wagner beschreibt, wie sie als begeisterter junger Mensch in einen charismatischen Orden eintrat (sie nennt ihn im Buch "die Königskinder", aber der wahre Name lautet wohl anders) und dort Stück für Stück fast unmerklich ihres freien Willens, ihrer eigenen Meinung, ihres Selbstbewusstseins und letztendlich ihrer Identität beraubt und zu einem weltfremden, willenlosen Werkzeug geformt wurde. Gehirnwäsche pur. Der Weg zum Missbrauch durch einen Priester ihres Konvents war dann nicht mehr weit.

Es ist unendlich hart, das zu lesen, aber auch extrem lehrreich. Im Geleitwort schreibt Wolfgang Beinert: "Es geht nicht darum, konkrete Gruppierungen oder Personen an den Pranger zu stellen, sondern darum, auf einen folgenschweren Webfehler aufmerksam zu machen, der sich in die Textur der Glaubensgemeinschaft eingeschlichen hat." Und auch das gefällt mir: "Wo der Mensch unbedacht das Absolute anvisiert, ist er auch dem absolut Bösen nahe." Man lese dies präzise. In grandioser Scharfsinnigkeit führt Beinert den Fehler im System auf das von Augustinus im 5. Jh. ausgehende theologische System zurück: "[...] In dieser Konzeption gibt es ein Problem: Wer stellt fest, was Gottes Wille ist? [...] Der Mensch will sein wie Gott - das ist das Baugesetz menschlicher Sünde. Nichts anderes aber beanspruchen sie zu sein: zu sein wie Gott gegenüber den anderen Gliedern der Gemeinschaft [...]"

Aber auch die Autorin selbst schreibt überzeugend, klug und gar nicht reißerisch. Dabei bewahrt sie immer einen guten Überblick, verzettelt sich nie. Das ist unglaublich dicht und spannend. Ich konnte kaum aufhören zu lesen.

Der Klappentext zitiert einen Kommentar von Sandra Maischberger: "Nach acht Jahren verließ sie das Kloster gebrochen und sexuell missbraucht." Aber das stimmt nur bedingt. Im gebrochenen Zustand hätte sie den Austritt wohl kaum geschafft. Neben all dem Entsetzlichen, das einen aus jedem Kapitel dieses Buches anspringt, lesen wir auch die Mut machende Geschichte einer jungen Frau, die allmählich aus einer Art Koma erwacht und Stück für Stück wieder zu sich selbst findet.

Sehr, sehr starkes Buch. Respekt. Und ... danke. Danke an Doris Wagner für die vielen wertvollen Denkanstöße, den immensen Mut, die akribische Arbeit an ihrer eigenen, schmerzvollen Geschichte, die kraftvolle Ansage am Ende des Buches, und: dass sie sich ihren Glauben nicht hat nehmen lassen.