Rezension

Ein Goldfisch zum Nachdenken

Der Tag, an dem der Goldfisch aus dem 27. Stock fiel - Bradley Somer

Der Tag, an dem der Goldfisch aus dem 27. Stock fiel
von Bradley Somer

Zum Inhalt: Goldfisch Ian – von Natur aus geplagt vom Wunsch nach Freiheit – hat es getan: er hat sich kopfüber aus seinem Glas, welches auf dem Balkon des 27. Stocks steht, gestürzt, und dabei unglücklicherweise den direkten Weg über die Balkonbrüstung genommen. Nun saust er – Brustflosse vorweg und mit konstanter Beschleunigung, dem Erdboden entgegen. Auf seinem Weg passiert er all die Stockwerke, die unter ihm liegen, und in Bruchteilen von Sekunden bekommt er Einblicke in kurze Lebensausschnitte der Einwohner des Hochhauses, von denen er bislang nicht wusste, dass es sie gibt.

Seite an Seite mit Ian erspäht der Leser Momentaufnahmen aus dem Leben der menschenscheuen Einsiedlerin Claire, des einsamen Hausmeisters Jimenez, des nicht minder einsamen elfjährigen Zeitreisenden Herman, der hochschwangeren Petunia Delilah, die an diesem Tag ihr Kind zur Welt bringen wird, des Bauarbeiters Garth, der seit Jahren ein Geheimnis verbirgt und an diesem Tag das größte Glück dabei entdeckt, sein Geheimnis endlich mit jemand teilen zu können sowie Ian’s Besitzer Connor, der seine große Liebe verliert, dafür aber an Erkenntnis gewinnt.

Eigene Meinung:  Dieses Buch hat mir so viel mehr geschenkt als ich davon erwartet hatte. Aufgrund der eher episodenartigen Beschreibung des Inhalts hatte ich eine Ansammlung von Kurzgeschichten, die möglicherweise lose miteinander verbunden sind, erwartet. Tatsächlich stecken in dem Buch jedoch eine ganze Reihe liebenswerter Charaktere, von denen man gerade genug erfährt, um sie alle sofort ins Herz zu schließen, und deren Leben alle auf unterschiedlichste Art, dabei jedoch untrennbar und zumeist auch völlig unerwartet, mit dem Leben eines der ihnen zuvor ebenfalls fremden Nachbarn verknüpft ist.
Die beschriebenen Personen sind sehr eigen und ohne Ausnahme sehr interessante Charaktere, und ihnen allen gemeinsam ist ihr recht einsamer Lebensstil – teils selbstgewählt, teils ungewollt, teils bewusst, teils verdrängt. Doch so unaufhaltsam wie der Goldfisch Ian aus dem 27. Stock dem Erdboden entgegen saust, so unaufhaltsam strebt an diesem Tag das Leben der unterschiedlichen Hochhaus-Bewohner auf einen Punkt zu, der sie zwingt, ihrer Einsamkeit den Rücken zu kehren, auf einen Wendepunkt, ein Punkt, an dem sie ihre innere Tür einem anderen, z.T. unbekannten Menschen, weit öffnen müssen.

Der Autor hat es geschafft, mich von der ersten Seite der Geschichte an, wie einen Goldfisch am Haken zu halten. Sehr schnell hatte ich zu den meisten der beschriebenen Charaktere einen Bezug aufgebaut, der mich von Kapitel zu Kapitel weiter trieb, um zu erfahren, wie dieser Tag für sie wohl zu Ende geht.

Stilistisch wird dabei die Spannung durch die eher kurzen Kapitel (z.T. sind sie nur zwei bis drei Seiten lang)  und den immer wieder eingestreuten Cliffhangern kontinuierlich hoch gehalten. Ebenfalls sehr gut gefallen hat mir, dass in nachfolgenden Kapiteln zuvor beschriebene Handlungsstränge teilweise nochmals aufgegriffen und aus dem Blickwinkel einer anderen Person erzählt und dadurch oftmals ergänzt bzw. um neue Aspekte bereichert werden.

Für mich ein ganz besonderes Buch, welches mit seiner guten Mischung aus lockerem, flüssig zu lesenden Stil und oftmals aber auch beinahe schon beiläufig aufgeworfenen philosophisch anmutenden Fragen zum Denken anregt und den Leser so manches Zitaten-Juwel zwischen den Zeilen finden lässt.