Rezension

Ein großartiger Roman über Liebe, Verrat und Vergebung

Stumme Herzen - Carla Guelfenbein

Stumme Herzen
von Carla Guelfenbein

Bewertet mit 5 Sternen

Die lateinamerikanische Literatur hat mich schon immer begeistert. Die außergewöhnlichen Romane von Autoren und Autorinnen wie Isabel Allende, Gabriel García Márquez, Paulo Coelho und vor allem Antonio Skármeta haben für mich einen ganz besonderen Stellenwert. Nun ist noch eine weitere Schriftstellerin hinzugekommen, deren Werke mich sehr ansprechen: Die Chilenin Carla Guelfenbein berührt durch einen einzigartigen, sehr poetischen Schreibstil, der die Leser mit ihren Geschichten verschmelzen lässt. Worte – so mächtig und doch so federleicht – schleichen sich in die Gedanken und hallen noch lange nach, wenn das Buch beendet ist. Lebensklug und mit tiefgreifenden Einsichten in die Befindlichkeiten der Menschen erzählt Guelfenbein von großen Gefühlen, verpassten Chancen und stetem Neubeginn, der Bestandteil unserer Natur ist. Dabei bedient sich die Sprachvirtuosin einer klaren, melodisch-harmonischen Ausdrucksweise, die ihre Romane zu einem Lesegenuß ersten Ranges macht.

Ein verhängnisvoller Sturz

Die betagte Schriftstellerin Vera Sigall hat sich von der Welt zurückgezogen und lebt allein mit ihren beiden Hunden in ihrem Haus in Santiago de Chile. Nur ihr Nachbar, der junge Architekt Daniel Estévez, schafft es, Kontakt zu ihr aufzubauen und ihr Vertrauen zu gewinnen – sehr zum Missfallen seiner Karriere-Gattin Gracia, die die beinahe familiäre Bindung der beiden mit Unverständnis zur Kenntnis nimmt. Als er Vera eines Tages bewusstlos am Fuße ihrer Treppe auffindet, ist Daniel schockiert: Er kann nicht fassen, dass die agile Dame ohne ersichtlichen Grund so schwer gestürzt ist. Er glaubt nicht an einen Unfall oder ein Mißgeschick, doch das behält er zunächst für sich.

Er hat genügend eigene Probleme, die sich nicht so einfach in Luft auflösen: Seine Ehe mit Gracia ist in einer Krise. Als sie ein Paar wurden, hatte Daniel mit seinem Entwurf eines Museums einen hart umkämpften Wettbewerb gewonnen und war zum aufsteigenden Stern der Architektenbranche avanciert. Doch als das prestigeträchtige Projekt auf Eis gelegt wurde, geriet auch seine vielversprechende Karriere ins Stocken, ein absolutes No-Go für Gracia, für die Erfolg das Wichtigste im Leben ist. Als Daniel ihr von seinem Traum erzählt, ein Restaurant auf den Klippen zu entwerfen und zu betreiben, ist sie mehr als entsetzt, denn in ihren Augen ist das kein Job für einen richtigen Mann.

Sterne und Planeten

Zeitgleich ist Emilia Husson, eine französische Studentin mit chilenischen Wurzeln, nach Santiago de Chile gekommen, um dort mittels Stipendium das Gesamtwerk von Vera Sigall zu erforschen. Der berühmte Dichter Horacio Infante, der als Gastdozent an ihrer Universität lehrt, hatte sie überzeugt, ihre Abschlussarbeit über Sigall zu schreiben und ihr darüber hinaus die Erlaubnis verschafft, in der Bibliothek Bombal Zugang zu all ihren Romanen zu erhalten. Als Tochter zweier Astronomen ist Emilia besonders an der Bedeutung der Sterne und Planeten in Sigalls Erzählungen interessiert, doch das hält sie zunächst geheim, da es ihres Erachtens selbst für Literaturwissenschaftler zu abgehoben sein könnte.

Als Infante Emilia zu einem gemeinsamen Lunch mit seiner Tochter einlädt, lernt sie dort zu ihrer Überraschung auch Vera Sigall kennen. Emilia bemerkt sofort, dass zwischen Sigall und Infante etwas Unausgesprochenes liegt, ein inniges, unsichtbares Band, das die beiden verbindet. Umso erstaunter ist sie, als sie wenig später unabsichtlich Zeugin eines lauten und zornigen Streits der beiden wird, den sie nicht einordnen kann.

Eine schicksalhafte Begegnung

Für Emilia bricht eine Welt zusammen, als sie erfährt, dass Vera nach einem folgenschweren Sturz im Koma liegt. Sie schafft es nicht mehr, sich auf ihre Recherchen zu konzentrieren und fährt ins Krankenhaus, um Vera nahe zu sein. Sie verbringt Stunde um Stunde im Wartesaal, weil sie keinen Zugang zum Krankenzimmer erhält. Dort sitzt Daniel, der alles versucht, um die schwer verletzte Schriftstellerin durch Vorlesen und Erzählen wieder ins Leben zurückzuholen.

Bald wird er auf Emilia aufmerksam, die auf ihn einen seltsam verlorenen Eindruck macht. Sie wirkt wie ein Wesen aus einer anderen Welt, das ganz in sich versunken ist. Und sein Eindruck täuscht ihn nicht: Die scheue Emilia hat ein Problem im Umgang mit Menschen, jeglicher körperlicher Kontakt ist ihr zuwider. Und trotz alledem verlieben sich die beiden und vertrauen sich einander an: Emilia erzählt Daniel, dass sie bei ihren Recherchen auf etwas äußerst Mysteriöses zwischen Sigall und Infante gestoßen ist, das bisher noch niemandem aufgefallen ist. Im Gegenzug berichtet Daniel Emilia, dass er nicht glaubt, dass Sigalls Sturz ein Unfall war und er daher die Polizei eingeschaltet hat.

Beide recherchieren schließlich gemeinsam und finden heraus, dass ein Obdachloser kurz vor Veras Sturz in der Nähe ihres Hauses gesehen wurde. Auch Infante soll Vera kurz vor ihrem angeblichen Unfall noch besucht haben. Als Daniel jedoch zu seinem Entsetzen entdeckt, wer Vera tatsächlich an dem Unglückstag besucht hat, kann er es nicht fassen und glaubt an einen Irrtum. Währenddessen macht Emilia eine weitere Entdeckung und erhält schließlich private, nur für ihre Augen bestimmte Aufzeichnungen von Infante, die die ganze Tragik seiner und Veras Geschichte enthüllen und den berühmten Dichter und die Schriftstellerin in ein völlig anderes Licht rücken…

Ein großartiger Roman über Liebe, Verrat und Vergebung

Mit Stumme Herzen ist Carla Guelfenbein ein erstklassiger, ausdrucksstarker Roman gelungen, der nachdenklich stimmt. Die aus drei Teilen bestehende Geschichte, deren Kapital jeweils abwechselnd aus der Perspektive von Daniel, Emilia und Horatio Infante erzählt werden, thematisiert zum einen die tragische Liebe des berühmten Dichters und der legendären Schriftstellerin in all ihren Facetten – leidenschaftlich, alltagsabsorbiert und schließlich zerstört durch einen Verrat, der unverzeihlich scheint. Doch was, wenn der sogenannte Verrat aus Liebe geschah? Die Frage klingt wie ein Paradoxum, doch in dieser Geschichte ist sie mehr als berechtigt. Haben nicht Stolz und ein übergroßes Ego zu einem existentiellen Dilemma geführt, von dem sich einer der Protagonisten (mehr sei an dieser Stelle nicht offenbart) erst im hohen Alter durch Einsicht und Vergebung befreien kann? Am Ende wird dieser Figur schmerzlich bewusst, dass sich die Zeit nicht zurückdrehen lässt – was bleibt sind Erinnerungen an eine Liebe, die zu fragil war für die Ewigkeit.

Zum anderen erzählt Guelfenbein die ungewöhnliche Liebesgeschichte der beiden Außenseiter Daniel und Emilia. Die behutsame Annäherung der beiden liebenswert verschrobenen Charaktere, die ihren ganz eigenen Charme hat, ist das genaue Gegenteil der ungezügelten Love Story von Horatio und Vera. Daniel und Emilia versuchen, ihren Platz in einer Gesellschaft zu finden, in der Individualität und Andersartigkeit keine Chance haben und begegnen einander in einem Moment, in dem alles düster scheint. Wie sie zueinander finden, erzählt Guelfenbein auf wunderbare Weise, wie es mit den Liebenden weitergeht, lässt sie offen. Am Ende findet sich alles zusammen, nur um dann wieder auseinander zu driften. Schicksal? Nein. Nur der Lauf des Lebens.