Rezension

Ein großartiger, zeitloser College- und Coming-of-Age-Roman

Die Kunst des Feldspiels - Chad Harbach

Die Kunst des Feldspiels
von Chad Harbach

Bewertet mit 5 Sternen

Manchmal muss man zu seinem Glück gezwungen werden. Von einem Baseball-Roman hätte ich bislang befürchtet, er würde mich beim Lesen zu einem mir fremden Volksstamm versetzen, dessen Sprache ich nicht verstehe. Zum Glück hat mich trotzdem jemand zu Harbachs großartigem, zeitlosem Coming-of-Age- und College-Roman überredet.

Im mittleren Westen der USA, "in der Daumenfalte des Baseballhandschuhs namens Wisconsin", liegt am westlichen Ufer des Lake Michigan das unspektakuläre Westich-College. Mike Schwartz, der Kapitän der College-Baseballmannschaft "Harpooners", entdeckt in Henry Skrimshander aus South Dakota ein Baseball-Talent wie aus dem Bilderbuch und wirbt Henry umgehend für die Mannschaft des Westich. Henry ist zu klein, zu leicht, zu wenig athletisch und dennoch ein begnadeter Shortstop. Als längst alle Zimmer verteilt sind, wird Henry noch zu Owen einquartiert, der sich bereits auf ein Semester ohne Mitbewohner eingerichtet hatte. Das einzige Buch, das Henry mit zum College-Studium bringt, ist "Die Kunst des Feldspiels", eine Bibel des Baseballs. Ein riesiger Kanister eines Muskelaufbaupräparats soll Henry in ein vierschrötiges Muskelpaket für das mittlere Innenfeld verwandeln. "Das hier ist Amerika, Verlierern verpasst man einen Ar[xxx]tritt" (S. 57). Owen, ein vielseitig begabter Student, spielt selbst Baseball und verachtet die Professionalisierung des College-Sports. Der Neue wirkt wie das wandelnde Bild des Außenseiters, ehe Owen Henrys äußere Erscheinung dem Publikumsgeschmack anpasst. Dem männlichen Rudelverhalten auf dem Campus steht Henry anfangs hilflos gegenüber und leidet unter seinem Unverständnis. Owen verbringt die meiste Zeit mit seinem Lover Jason, und ohne Zimmergenossen scheint es für Henry unmöglich, am Westich außerhalb der Baseball-Mannschaft Kontakt zu knüpfen.

Westich hebt sich aus dem Einerlei des Mittleren Westens durch seine Beziehung zu Herman Melville heraus. Dekan Affenlight spezialisierte sich als Student auf Melville und Autoren des 19. Jahrhunderts, er promovierte über die "kultische Überhöhung von Männerfreundschaften". Nun steht Affenlight kurz vor der Pensionierung und muss für sein College in wirtschaftlich schwierigen Zeiten Sponsorengelder eintreiben, um konkurrenzfähig zu bleiben. Von Henry als Neuzugang für die Baseballmannschaft erhofft sich der Dekan eine Stärkung seiner Verhandlungsposition. Auch die College-Sportler stehen unter Druck; denn ihre weitere Zukunft hängt von ihren sportlichen Erfolgen ab. Die harten Kerle und Leute schindenden Trainer halten sich mit Alkohol, diversen Pillen oder christlichen Erweckungerlebnissen aufrecht, ehe sie ihr Scheitern zu ertragen lernen. Als "Buddha" Owen entgegen den Anweisungen seines Trainers auf der Reservebank ein Buch liest, wird er von einem Fehlwurf Henrys mitten im Gesicht getroffen und schwer verletzt. Owens sonderbarer Unfall im Stadion markiert eine Wende im Leben der drei jungen Sportler, des Dekans und seiner Tochter Pella. Dekan Affenlight, hingerissen von Owen, lässt sich von dem Jungen als Vorleser am Krankenbett vereinnahmen, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, dass ein Dekan wohl kaum eine homosexuelle Beziehung zu einem Studenten aufnehmen kann. "Laut zu lesen lag ohnehin bereits an der Grenze zur Intimität, eine Stimme, zwei Ohrenpaare, wohlgeformte Sätze - man musste es ja nicht gleich übertreiben. Er hätte Tocqueville mitbringen sollen. Oder William James. Oder Platon, Nein, nicht Platon." (S. 202) Kurz zuvor war Affenlights Tochter Pella nach dem Scheitern einer überhasteten Ehe in die winzige Dienstwohung ihres Vater im Westich-College zurückgekehrt. Pella war nach dem frühen Tod ihrer Mutter als Campus-Maskottchen unbeschwert durchs Leben gehüpft. Ob es sinnvoll ist, ihr Leben ausgerechnet an dem College wieder auf Linie zu bringen, an dem ihr Vater Dekan ist, und eine Affäre mit dem Kapitän der Baseballmannschaft zu beginnen?

Fazit
Die Begeistrung für Baseball war mir bisher ein Buch mit sieben Siegeln, "Die Kunst des Feldspiels" hat wenig zur Überwindung dieser interkulturellen Barriere beigetragen. Mit für deutsche Leser unaussprechlichen Familiennamen und einem sehr speziellen Humor sorgt Harbach für einen schrägen Unterton in den Ereignissen am College; z. B. zieht sich als Running Gag das Wort "GÄ.TE" für die gegnerische Mannschaft durch den Roman; denn auf der defekten Anzeigetafel im Stadion fehlt ein Buchstabe. Harbachs nerdhafte Sportler gehen humorvoll miteinander um, ohne den Roman durch anbiedernde Jugendsprache zum kurzlebigen Modeartikel zu degradieren. Das komplexe Beziehungsgefüge in Harbachs Männerwelt mit Quotenfrau lässt einige Handlungsfäden im Nichts enden und war für mich nicht durchgehend plausibel. Zu unrealistisch schien mir, dass im täglichen College-Betrieb niemand die verbotene Beziehung zwischen Affenlight und seinem Studenten kommentiert. Harbach lässt seine Figuren berührende Momente der Nähe miteinander teilen, die heftig mit seiner Karrikierung von Männerbildern und Männlichkeitsidealen kontrastieren. Mit dem Abstand einiger Jahre werde ich den Roman sicher noch einmal lesen; denn er enthält eine Reihe unvergesslicher Szenen, die ich zu gern jemandem vorlesen würde.

Textauszug
"Nach vier Fehlern des Pitchers bekam Starblind die First Base geschenkt, Sooty Kim beförderte ihn mit einem Abtropfer zur Second, und Henry rückte nach einem Schlag am Ohr des Werfers vorbei auf die First Base. Schwartz pfefferte einen Mondball ins linke Mittelfeld." (S. 196)