Rezension

Ein großer Wurf, der Ereignisse eines Jahrhunderts umfasst

Die Birken wissen's noch - Lars Mytting

Die Birken wissen's noch
von Lars Mytting

Bewertet mit 5 Sternen

Solange sich Edvard erinnern kann, hat er mit seinem Großvater Sverre auf dem Hof bei Saksum im norwegischen Gudbrandstal gelebt. Als Edvards Eltern vor vielen Jahren verunglückten, nahm Sverre Hirifjell seinen Enkel an die Hand, adoptierte ihn offiziell und erzog ihn als Nachfolger für den Hof. Großvater Sverre hat im Dorf keinen leichten Stand, seit er im Zweiten Weltkrieg als Freiwilliger auf der Seite der Deutschen gekämpft hat. Auch Edvard bekam die Abneigung der Nachbarn zu spüren.

Der 23-Jährige ist ein etwas zu ernsthafter und pflichtbewusster Mann, als Sverre stirbt. Edvard lebt - getrennt von Sverre - im Altenteil, das für den Altbauern gedacht ist, nachdem der den Hof an seinen Nachfolger übergeben hat. Einzige bescheidene Vergnügen sind neben den Pflichten des Landwirts das Angeln und das Fotografieren mit einer Leica, zu der er sich jedes Jahr weiteres Zubehör kauft. Edvard kennt das Glücksgefühl, direkt hinter dem Hof bergan zu marschieren und vom Berg aus hinab auf das Land und den Hof zu blicken, dessen Namen er trägt. Er kennt aber auch die leise Unruhe, weil Großvater Sverre den Hof möglichst nicht verlässt, um ein Geheimnis zu bewahren, das er vor seinem Enkel verbirgt. Edvard fehlt ein Stück aus den Erinnerungen an seine Kindheit. Als seine Eltern verunglückten, tauchte der unverletzte kleine Edvard erst nach mehreren Tagen wieder auf. Nach Sverres überraschendem Tod ist für Edvard nun der Weg frei, die Familiengeheimnisse zu erforschen.

Beunruhigt ist Edvard, dass er so wenige Erinnerungen an seine Mutter hat, mit der er als Kind Französisch gesprochen hat. Spannend wird seine Spurensuche, als Edvard Widersprüche entdeckt in Sverres Erzählungen über Großonkel Einar, der angeblich 1944 im Zweiten Weltkrieg gefallen ist. Einar sollte als ältester Sohn den Hof erben, ging dann jedoch für seine Ausbildung als Kunsttischler nach Frankreich. Den Birkenwald, auf den sich der deutsche Buchtitel bezieht, hat Einar angelegt, um gezielt Flammenbirkenholz zum Kunsttischlern wachsen zu lassen. Edvard entdeckt, dass Einar für die Résistance in Frankreich aktiv war und noch lange nach dem Krieg als Tischler auf einem winzigen Inselchen der - ehemals norwegischen, heute schottischen - Shetland-Inseln lebte. Einar hinterlässt für den Jungen etwas unvorstellbar Kostbares, das er so raffiniert versiegelt und verriegelt, dass man als Leser daran zweifelt, ob Edvard den Weg zu Einars Vermächtnis überhaupt entschlüsseln kann. Dazu muss der junge norwegische Bauer tief ins Handwerk seines Onkels eintauchen und in Ereignisse auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs.

Fazit
Edvards Spurensuche nach der eigenen Kindheit, sowie dem Schicksal seiner Mutter und seines Großonkels bettet Lars Mytting in eine raffinierte Schnitzeljagd durch mehrere Länder und nach Ereignissen fast des gesamten 20. Jahrhunderts ein. Mit Lars, Einar und Edvard schafft er wunderbare Figuren, deren Schicksale wohl kaum jemand unberührt lassen werden. In den Details zur Landwirtschaft, zum Tischlern und zu den historischen Ereignissen zeigt Mytting sich als akribischer Rechercheur. Zum Glück bin ich kein Kunsttischler und muss nicht beurteilen, ob die geschilderten Abläufe Hand und Fuß haben. Wenn Edvard fotografiert und entwickelt, haben die Dinge jedenfalls Hand und Fuß – und allein darin unterscheidet sich Lars Mytting von einer Reihe seiner Autorenkollegen. Stilistisch und mit seinem raffinierten Plot ist der Roman ein ganz großer Wurf. Dass Lars Mytting mit diesem Buch berühmt wird, wie das Dagbladet hofft, wünsche ich ihm aufrichtig.

°°°°
Zitate
In jener Nacht kam der Tod zurück zum Hirifjell-Hof. Es war klar, wen er holen würde, viel Auswahl gab es nicht. Ich war dreiundzwanzig Jahre alt, und wenn ich später an jenem Sommer dachte, wurde mir klar, dass der Tod nicht immer ein blinder und grausamer Schlächter ist. Es kommt vor, dass er die Schlüssel ordentlich wieder hinlegt, bevor er geht. Dennoch ist er ein Gast, der alles umstürzt.“ (S. 19)

Ich rollte den Film auf die Filmentwicklungsspirale, tat ihn in den Entwicklungstank, öffnete die Luke und kroch hinaus. Dann stellte ich den Tank auf die Küchenbank. Und dachte: Jetzt wird es ernst. Du hast nur eine Chance. Im Kessel machte ich Wasser warm. Hielt das in der Apotheke gekaufte Thermometer hinein. Zu warm. Noch etwas kaltes Wasser. Da. Zwanzig Grad. Rasch mischte ich den Entwickler an und füllte ihn in den Tank. Stieß den ein paarmal auf die Bank, damit es keine Luftblasen gab, setzte mich hin und wartete. Jetzt gab es keinen Weg zurück. Elf Minuten ohne jede andere Tätigkeit. Elf Minuten, nicht zehn, nicht zwölf. Jeweils nach drei Minuten drehte ich den Tank um und gab ihm einen kleinen Schlag. Jetzt. Zeit zum Abgießen. Die Flüssigkeit hatte sich dunkel verfärbt. Ein gutes Zeichen. …“ (S. 372)