Rezension

Ein Haus in einer Großstadt als Spiegel unserer Gesellschaft

Rechnung offen - Inger-Maria Mahlke

Rechnung offen
von Inger-Maria Mahlke

Bewertet mit 4 Sternen

Zum Beispiel eine Soap-Opera, damit könnte man dieses Buch vielleicht vergleichen. Eine Soap allerdings, in der nicht alle Geld haben, ohne arbeiten zu gehen. Auch geht es hier nicht um die ewig wechselnden Kombinationen der Partner.In diesem Buch geht es um Gescheiterte, um Menschen mit wenig Glück und mit einer Rechnung offen – einer Rechnung mit dem Schicksal.

Ein Haus in Berlin Neukölln. Das Haus gehört Claas Jansen. Eigentlich wohnt Claas nicht hier, jetzt aber schon. Denn er hat Schulden, Ärger mit seiner Frau und obendrein ist er auch noch kaufsüchtig – schnell mal eine schicke vase in der Mittagspause gekauft. Klick, und meins! Jetzt zieht er also in die leerstehende Wohnung, schläft auf einer Isomatte und seine Sachen liegen im Raum verteilt, ein einzelner Stuhl als Möbelstück.

In dem haus wohnt auch Claas’ Tochter, die den Eltern ein Studium vortäuscht, stattdessen aber ihre Zeit bekifft in der Wohnung tot schlägt. Ihr Gras bekommt sie von den Männern im Erdgeschoss, die es tagsüber im Park verkaufen, nachts dort auf Matratzen am Boden schlafen, ähnlich wie Claas ein paar Stockwerke höher. Er allerdings hat die Wohnung für sich, im Erdgeschoss sind sie mindestens zweistellig. Ihr Anführer wird ‘Egypt’ genannt. Von dem bekommt das Mädchen ihr Schutzgeld in Form von Gras, denn ihrem Vater gehört ja das Haus, der weiß nicht, was ihr hier macht…

Es wohnt hier außerdem noch eine ältere Frau, offensichtlich an Alzheimer erkrankt. Sie lebt in ihrer eigenen Welt und die ist nicht die gegenwärtige. Immer wieder wundert sie sich über ‘plötzlich’ verschwundene Geschäfte und wechselnde Nachbarn. Als sie ihre beste Freundin besuchen will, öffnet ihr eine Fremde. Sagt: ‘Sie schon wieder!’ Viele alte Erinnerungen kommen zurück und machen das Leben der Frau nicht einfacher. Gut, dass zumindest die Kassiererin im Supermarkt mitdenkt – ‘das brauchen Sie nicht, haben Sie heute vormittag schon gekauft.’
Diese Frau bekommt außerdem Besuch von einem blonden Jungen, der sich als ihr Enkel ausgibt. Der Kaffeetisch ist immer gedeckt, er könnte ja heute wieder kommen. Geld wechselt den Besitzer – die Wichtel waren da.

Der junge Mann ist verliebt in die Kellnerin des Cafes gegenüber, das Ganze nimmt kein gutes Ende!

Die alleinerziehende Mutter schlägt sich auch mehr schlecht als recht durch. Der Job im Backshop muss dran glauben, als das schnelle Geld winkt. Die Mutter wird Gelegenheits-Domina, leider werden die Gelegenheiten schnell immer seltener verschwinden bald gänzlich. Was soll sie ihrem Sohn erzählen?! Der geht auch lieber mit seinen ‘Freunden’ zu Kaufhof, in die Konsolenabteilung, als in die Schule. Wen kümmerts auch, die Mutter offensichtlich wenig. Am Ende gar nicht mehr.

Wir klappen die Rückwand dieses Hauses auf und sehen in dieser Hausgemeinschaft eine Ansammlung von Einzelschicksalen, jeder lebt hier vor sich hin, neben dem anderen her, eine Parallelgesellschaft möchte man sagen, eine Gemeinschaft ganz sicher nicht. Die Anonymität der Großstadt in Reinform, keiner will und darf das eigene Scheitern öffentlich machen.

Jeder für sich und doch alle zusammen sind sie gescheitert an der Gesellschaft. Jeder für sich hat jedoch die Hoffnung noch nicht ganz aufgegeben, dass vielleicht doch noch alles wird…

Doch wo die Soap in ihrer ewigen Wiederholung der gleichen Geschichte mit verschiedenen hübschen Gesichtern erstarrt, zeigt uns Inger-Maria Mahlke hier ein Haus in Berlin-Neukölln als Abbild des großen Hauses Deutschland, oder gar Europa. Denn wie wir ja inzwischen wissen: Neukölln ist überall.
Nie langweilig, nie zu dramatisch, der Alltag des Scheiterns in nüchterem Stil erzählt. Jeder von uns hat eine Rechung offen, aber wer zahlt das am Ende?!