Rezension

Ein herausragendes, uneingeschränkt empfehlenswertes Buch

D-Zug dritter Klasse -

D-Zug dritter Klasse
von Irmgard Keun

Bewertet mit 5 Sternen

„Neues Leben hieß vor allem, kein altes Leben mehr haben. Man zieht das alte Leben aus, wie man Schuhe auszieht, die drücken, und alles ist gut. Man ist ohne Qual und ohne Makel, Gewesenes gilt nicht mehr.“ (46%)

Lenchen, Anfang 20, stolpert so durch ihr Leben. Sie ist eine Träumerin und unbedingt abhängig von anderen. Allerdings ist sie dabei nicht loyal und sehr, sehr sprunghaft. Innerhalb eines Wimpernschlags ändern sich ihr Wünschen und ihre Gefühle. Zur Zeit ist sie unter anderem an einen herrischen, angsteinflößenden und wankelmütigen Arzt namens Karl geraten, der über sie verfügt. Gemeinsam fahren die beiden mit dem D-Zug dritter Klasse von Berlin nach Paris. Dort möchte Karl ein neues Leben beginnen; Lenchen - so hat er entschieden - darf bei ihm bleiben.

Im gemeinsamen Abteil sind fünf weitere Fahrgäste, deren Lebensgeschichten wir nach und nach auch erfahren.

Ich kann mich nicht daran erinnern, wann ich zuletzt ein Buch an einem Abend durchgelesen habe, aber dieses hier konnte ich nicht mehr aus der Hand legen. Es ist witzig und gleichzeitig so bitter. Keine der Heldinnen ist wirklich sympathisch, ganz besonders Lenchen nicht. Und doch leidet man mit ihnen, möchte ins Geschehen eingreifen und sie alle voneinander trennen. 

Die Sprache ist unheimlich klar und gleichzeitig dicht. Ein kluger Satz folgt dem anderen - viele kann man sich als kleine Sinnsprüche auf Postkarten gedruckt vorstellen. Und die Erzählung wird von Seite zu Seite schneller, wie ein Strudel. Während man immer mehr über die Protagonistinnen erfährt und sich ihre Schicksale während der Fahrt miteinander verweben, muss man gleichzeitig akzeptieren, dass unter den sieben Reisenden vielleicht nur eine einzige Person einen verlässlichen Charakter hat. Endsprechend ist das Ende der Geschichte großartig und passt perfekt.

Ein herausragendes, uneingeschränkt empfehlenswertes Buch! Und bestimmt für mich der Auftakt zur Lektüre von Irmgard Keuns Gesamtwerk