Rezension

Ein Herbst voller Erinnerungen, Melancholie und die Erfüllung eines lang gehegten Traums

Der Herbst, in dem ich Klavier spielen lernte - Hanna Johansen

Der Herbst, in dem ich Klavier spielen lernte
von Hanna Johansen

„Ich lerne Klavier spielen. Was dieser Satz bedeutet, weiß ich noch nicht. Es gefällt mir, das nicht zu wissen. Dagegen verwirrt mich, was er früher bedeutet hätte.“

Dieser erste Satz faszinierte mich, machte mich neugierig und ich war gespannt, ob diese Faszination das ganze Buch über anhalten konnte.

Die namenlose Ich-Erzählerin triumphiert. Endlich ist es soweit und sie kann sich einen lang gehegten Traum erfüllen: endlich lernt sie Klavierspielen. Mit über siebzig zwar, aber das ist egal. Ihre Erfahrungen mit diesem Prozess, ihre Gedankengänge und Einsichten hält sie in tagebuchartigen Einträgen fest. Sie beginnt damit am 22. September und hört kurz vor Weihnachten, am 20. Dezember, damit auf.

Sie schreibt darüber, wie anstrengend es ist, dieses Lernen. Wie mühsam es mit zunehmendem Alter wird, von seinen Fingern unbekannte Bewegungsabläufe zu verlangen und seinem Gehirn neue Muster zuzumuten. Wie selbstverständlich es doch früher war, etwas Neues zu lernen und wie faszinierend, etwas zum ersten Mal zu tun. Für sie ist es gleichzeitig Mühsal und Genuss, und sie formuliert es so:

“Ich bin geradezu froh, dass ich noch nicht Klavier spielen kann. Wenn ich es könnte, könnte ich mit Freunden Musik machen und mich verbessern, aber eines könnte ich nicht mehr, die ersten und aufregenden Schritte des Lernens erleben.” (Seite 65)

Gleichzeitig setzt sie ihre Erkenntnisse in Bezug zu Erfahrungen, die eigentlich für jeden von uns alltäglich sind – die aber durch ihre Projektionen, durch ihr Relativieren in einem anderen Licht erscheinen. Zum Beispiel stellt sie fest, als sie ihre kleine Cousine beobachtet:

“Greifen ist eine Kunst, die man üben muss. Festhalten klappte, aber loslassen nicht. Loslassen kann also schwieriger sein als festhalten. Auf alle Fälle kommt es nach dem Festhalten.” S. 46

Während ihre Fingerfertigkeit technisch vorwärts schreitet, geht sie mit ihren Erinnerungen immer weiter zurück, bis hin zu ihren Wurzeln. Hin zu ihrem Vater, zu dem sie ein sehr zwiespältiges Verhältnis hatte. Zu ihrer Mutter, die in puncto Selbstbewusstsein und Souveränität ihrer Zeit deutlich voraus war – was das Leben nicht unbedingt leichter machte.

Der ganze Roman schwingt in einer bestimmten Art von Melancholie. Nicht depressiv – eher sehr nachdenklich, sehr ruhig, sehr um nachträgliches Verstehen bemüht. Das las sich mit der Zeit etwas zäh und bedingt durch die vielen Reflexionen war mir zu viel vom „könnte, würde, daraus schließe ich“ dabei; es war mir zu passiv und zu viel Konjunktiv. Durch die interessante Lebensgeschichte, die auch jene Brüche zeigt, die ein Lebenslauf bekommen kann, wenn etwas Unabwendbares wie etwa ein Krieg dazwischenkommt, habe ich es aber trotzdem nicht bereut, dieses Buch bis zum Ende gelesen zu haben.

Über die Autorin findet sich Folgendes:

1939 in Bremen geboren. Studium in Marburg und Göttingen. Nach Aufenthalten in Ithaca, New York und Genf lebt sie seit 1972 in Kilchberg bei Zürich. Zahlreiche Veröffentlichungen (Romane, Erzählungen, Bücher für Kinder). Für ihre literarischen Werke wurde sie verschiedentlich ausgezeichnet, u.a. mit dem Marie Luise Kaschnitz-Preis (1986), dem Preis des Landes Kärnten (1993), dem Solothurner Literaturpreis (2003) und dem Kunstpreis der Stadt Zürich (2008). Hanna Johansen ist Korrespondierendes Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.