Rezension

Ein historisches Wimmelbild. But not my cup of tea.

M. Der Sohn des Jahrhunderts - Antonio Scurati

M. Der Sohn des Jahrhunderts
von Antonio Scurati

Bewertet mit 5 Sternen

Das hab ich ja noch nie gemacht, einem Buch fünf Sterne verpasst, das ich gar nicht mochte. Ich motze also, kann aber nichts anderes tun, als anzuerkennen, dass es irgendwie doch ein Meisterwerk ist. Ich würde das Buch auch mögen, wäre ich nur eine Italienerin. Gut, bisher hab ich das noch nie bedauert ... es gibt für alles ein erstes Mal ;-).

Kurzmeinung: Puh - noch so ein Wälzer und ich höre auf zu lesen.
 

Eigentlich macht Antonio Scurati nichts anderes, als dass er die Zeitzeugnisse, die er nach den jeweiligen Kapiteln anfügt, nämlich Interviews, Zeitungsausschnitte, Tagebuchauszüge, Teile aus Manifesten und anderen politischen Erklärungen, etc. etc. -- im jeweils vorhergehenden Kapitel groß auswalzt und sie, schon anschaulich, aber auch weitschweifig, mit Worten und Personen füllt. Es entsteht ein riesiges, historisches Wimmelbild! Oder ein gewaltiges Wandgemälde. Das muss man mögen und ich mag es nicht, was jedoch die Qualität dieses Werks keineswegs mindert, das den begehrten Premio Strega, Italiens wichtigsten Literaturpreis, erhielt. 

 Leicht zu lesen ist das Ganze sicherlich. Aber eben auch voluminös in Worte verpackt. Ein Paket voller Luftpolster! In einer der damaligen Zeit angepaßten, aufgeplusterten Sprache. 

 Die rote Linie geht dabei erst einmal verloren, man verliert sich in Einzelheiten. Und läuft Gefahr, sich zu langweilen. Der Leser, der sich einen Überblick über das verschaffen will, was Faschismus ist, wie Faschismus entsteht, und das zügig, erstickt in diesem ganzen Klein-Klein-Zeug. In unwesentlichen Details und ja, auch in Pathos verbreitendem Wortgeschwurbel. 

Kleiner Ausschnitt: „Der Schnaps ist zäh, hochprozentig, von dunkler Farbe, der Farbe geronnen Blutes, düster wie ein Gerinnsel, wie Monatsblut oder krankes, übles Blut, das einem Sorge bereiten muss, wenn man es in seinen Ausscheidungen entdeckt.“ Das ist einfach nicht der Stil, den ich goutiere. (Und außerdem misogyn).

Mussolini lernt man jedenfalls nicht kennen. Er bleibt ein blinder Fleck in der Landschaft. Und das, obwohl viele seiner Schritte nachverfolgt werden. Mit Finesse und Kenntnisreichtum. Aber was machte diesen Mann aus? Warum war er, wie er war? Das erschließt sich nicht, beziehungweise, es erschließt sich nur zwischen den Zeilen. 

Andererseits bekommt man auch einen unverfälschten Eindruck der Jahre 1919 bis 1924. So war es. Das belegen die eingefügten Dokumente. Weniges ist erfunden, der Autor tat nur Farbe dazu, kolorierte das Wimmelbild. Was das Ganze für den deutschen Leser unübersichtlich macht, ist die Tatsache, dass die italienischen Personen, von denen gefühlt Hunderte agieren, ihm im Großen und Ganzen unbekannt sein dürften. Die italienischen Akteure kennenzulernen, ist natürlich auch wieder ein Plus. Ein Mehrwert an Wissensgewinn. 

Dieses Wimmelbild ist natürlich ein Meisterwerk! Wenn auch ein anstrengendes. Der Autor zeigt, aber er erklärt nicht. Fügt nicht seine Schau hinzu. Mir macht gerade das zu schaffen, ich bevorzuge die kühlen Erläuterungen und Zusammenfassungen eines Historikers. Andere genießen gerade das, was der Autor offen lässt. 

 Am Ende des Buches befindet sich ein umfangreiches Personenregister, gegliedert nach politischen Gruppierungen, das man auch unbedingt braucht. Bitte schon vor Beginn der Lektüre studieren!

Mein Fazit fällt bedeutend länger aus als sonst. Man bedenke, dass mir das Buch "nicht gefallen" hat.

 

Fazit: „M. Der Sohn des Jahrhunderts“ ist ein großes Gemälde einer grauenhaften Zeit. Es ist eine Darstellung des italienischen Geschehens aus italienischer Sicht, was sein großes Plus ist. Jedoch ist es nicht das Bild eines Jahrhunderts und liefert wenige bis gar keine Erläuterungen. Der Titel ist wieder einmal irreführend. Warum ist gerade Mussolini der Sohn des Jahrhunderts? Da gab es auch andere. Darüber wird kaum gesprochen. 

Und vorgestellt werden die Jahre 1919 bis 1924. Dort endet das Buch schon. Schwamm drüber. Es ist die italienische Sicht. Das sagt alles. Für Italiener*innen wiegt Mussolini eben zehn Stalins, Lenins und einen Hitler und einen Mao Zedong locker auf. Geht in Ordnung. Warum sind nur üble Burschen Söhne eines Jahrhunderts? Schwamm drüber. 

Der ganze Rest ist Geschmacksache. It is not my cup of tea, ganz und gar nicht, aber deshalb ist das Buch nicht runterzuschreiben. Es bekommt seine 5 Punkte für das, was es ist. Ein Wimmelbild einer schlimmen Zeit. Danke, Klett-Cotta, dass es uns diesen Wälzer übersetzt und vorgestellt hat. 

Kategorie: Historischer Roman. Sachbuch.
Verlag: Klett-Cotta, 2020

 

Kommentare

Emswashed kommentierte am 18. Juli 2020 um 09:25

Dann gratuliere ich zu dieser Mammutaufgabe, Dich durchgebissen zu haben. "1913" von Illies (les ich grad) ist ein ähnliches Wimmelbild, nur dass die Namen uns bekannter, die Seitenzahl erträglicher und Hitler noch ein unbekannter Maler ist. Hilft das als Vorbereitung?