Rezension

Ein hochwertiges Stück literarischer Detektivarbeit

Treue -

Treue
von Hernan Diaz

trust [trʌst] s 1. Vertrauen, Zutrauen; 2. Stiftung; 3. Investmentgesellschaft, Großkonzern, Trust, Kartell; 5. Treuhandschaft, Pflegschaft; usw.

Der Titel des englischsprachigen Originals dieses Romans von Hernan Diaz ist „Trust“. Und genau dieses „Trust“ enthält in seiner Bedeutungsvielfalt bereits die wichtigsten Komponenten des Romans. Vordergründig geht es um ein Ehepaar der New Yorker Finanz-High-Society zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Um diese Ehepartner herum konstruiert nun Diaz ein kongeniales literarisches Puzzlespiel, in welchem es für die Leserschaft heißt herauszufinden, welcher Darstellung von Personen, deren Leben, historischen Ereignissen und scheinbaren Sachverhalten sie vertrauen kann und welcher nicht. Schon der schweizerische Politiker Ernst Reinhardt sagte: „Die Geschichte wird von den Siegern geschrieben.“ Der zweite Teil des Zitats wird häufig vernachlässigt, sollte mit Blick auf den Roman jedoch fast noch stärker hervorgehoben werden: „Aber die Nachwelt behält sich Korrekturen vor.“ Ob die Korrekturen immer "der Wahrheit" zuträglich sind, hinterfragt der vorliegende Roman.

So lässt uns Diaz mithilfe von vier Texten das literarische Puzzle nach und nach zusammensetzen, über welches inhaltlich an dieser Stelle nicht viele Worte verloren werden sollten. Denn jeder Leser und jede Leserin sollte für sich selbst die vielen Aha-Momenten erleben und die Raffinessen des Romans entdecken können. Durch eine kongeniale Konstruktion führt der Autor seine Leser:innen zunächst aufs Glatteis, nur um sie dann wieder Schritt für Schritt mit der – in dieser Form bisher noch nicht an anderer Stelle gesehenen - Technik der Perspektivvariation und pointierten Formulierungen davon herunterzugeleiten; hin zu einer Annäherung an „die Wahrheit“. Die mitunter diametralen Darstellungen münden in einem überraschenden, fulminanten Finale. Dabei bleibt der Roman in seiner Gesamtheit stets konsistent und lädt dazu ein, nach Abschluss der Lektüre gleich noch einmal von vorn zu beginnen, um noch einmal alle Kniffe dieses Ausnahmeautors erfassen zu können und das Buch mit neuen Augen zu lesen. 

Es handelt sich hierbei um ein Gesamtkunstwerk der Spitzenklasse, welches man keinesfalls allein auf einen „Finanzroman“ reduzieren sollte. Es werden menschliche Abgründe genauso erzählt wie Verschleierungen von Geschehnissen, Vertrauen(-sverlust) in Menschen und Erzählinstanzen. Um den Roman mit einem Zitat aus ebendiesen zu beschreiben: „Die Erwartungen und Ansprüche der Leser waren dazu da, gezielt durcheinandergebracht und untergraben zu werden.“ Und ebenso in Anlehnung an ein Zitat aus dem Buch, kann man sagen, dass „Treue“ nicht nur Literatur ist, sondern auch Beweisstück. Man muss den Ungenauigkeiten und Freiheiten genauso auf die Schliche kommen wie den Beschönigungen und Selbstverherrlichungen, um letztlich bestenfalls einen Eindruck von den wahren Personen und Geschehnissen dahinter zu erhaschen. Denn „Treue“ zeigt, wie die Realität zurechtgebogen werden kann, je nachdem wer die Deutungshoheit hat. 

Mit der Hoffnung zwar viel über die herausragende Qualität und Kreativität des Romans gesagt aber nur wenig über den Inhalt verraten zu haben, beschließe ich meine Rezension mit der dringenden Empfehlung, dieses Buch zu lesen. Für mich handelt es sich hierbei um ein echtes Meisterwerk und Lesehighlight dieses Jahres. Dem Autor bleibt zu wünschen, dass er den Booker Prize 2022, für welchen er mit „Trust“ nominiert ist, auch gewinnt. Denn dieses Stück sprachlich hochklassiger, emotional und kognitiv mitreißender, bestechend konstruierter sowie großartig von Hannes Meyer übersetzter Literatur verdient nicht nur fachliche Anerkennung, sondern auch ein großes, begeistertes Publikum.