Rezension

Ein intelligenter Krimi, der für spannende Lesestunden sorgt

Der Schneegänger - Elisabeth Herrmann

Der Schneegänger
von Elisabeth Herrmann

Bewertet mit 4.5 Sternen

Eine unberechenbare Ermittlerin

"Der Schneegänger“ ist der zweite Fall für Sanela Beara. Während die junge Frau bei ihrem Debüt „Das Dorf der Mörder“ noch als Streifenpolizistin tätig war, ist sie nun Studentin an der HWR – der Hochschule für Wirtschaft und Recht in Berlin. Nach ihrem Abschluss möchte sie eine Karriere als Kriminalkommissarin anstreben. Doch auch ohne abgeschlossenes Studium muss Sanela bei diesem neuen Fall vollen Einsatz leisten. Hauptkommissar Lutz Gehring steckt nämlich mitten in einer Ermittlung fest, ohne nennenswerte Erfolge verzeichnen zu können. Die Leiche des vor vier Jahren verschwundenen Jungen Darijo Tudor wurde im Wald entdeckt, und noch gibt es keinerlei Hinweise auf den Täter und das Motiv. Also fordert Gehring die Unterstützung seiner jungen „Kollegin“ an. Denn er weiß, dass er sich auf Sanelas Scharfsinn, ihre Intuition und ihren Ehrgeiz – dem Täter auf die Spur zu kommen – verlassen kann. Auch ihre kroatischen Wurzeln können für die Aufklärung des Mordes von unschätzbarem Vorteil sein, da das Opfer mitsamt seiner Familie aus Kroatien kam. Und Gehring hat recht: Sofort wird Sanela Beara vom Ermittlungs-Fieber gepackt – mit dem festen Vorsatz, den Mörder des kleinen Jungen zu stellen und diesen Fall – koste es, was es wolle – aufzuklären. Dabei hält sich die junge Frau nicht immer an die polizeilichen Regeln und verstößt mehrfach gegen das Protokoll, indem sie einige Schritte im Alleingang unternimmt und sich nicht nur einmal in große Gefahr begibt. Besonders ihr Undercover-Einsatz bei der Millionärs-Familie Reinartz, bei der der verstorbene Junge und seine Eltern als Dienstpersonal wohnten, stellt sich als äußerst heikel heraus. Allerdings ist dieses Verhalten geradezu typisch für Sanela – sie hat einen überaus starken Willen, ist eigensinnig und tendiert dazu, mit dem Kopf durch die Wand zu wollen. Sie ist so ehrgeizig, dass sie einerseits oft übereifrig wirkt, andererseits jedoch stets zielstrebig und effizient handelt.

Auch, wenn Lutz Gehring als zweiter Protagonist eine wichtige Rolle in der Handlung übernimmt, ist Sanela der unangefochtene Star in Elisabeth Herrmanns neuen Krimi. Interessant ist, dass die Autorin ihre Heldin im ersten Teil der Krimi-Reihe zunächst nur als Nebenfigur konzipiert hatte, dann aber selber so begeistert von ihr war, dass sie Sanela eine Hauptrolle zusprach. Elisabeth Herrmann sagt in einem Interview über ihre Protagonistin: „Ich mag sie sehr, weil sie pfiffig ist, flink, frech, vorlaut, nicht berechnend.“

Gute Unterhaltung und mehr

Ich habe mich bei der Lektüre von „Der Schneegänger“ sehr gut unterhalten gefühlt. Es hat mir große Lesefreude bereitet, mich gemeinsam mit Sanela und Gehring auf Tätersuche zu begeben und dabei tief in eine dramatische und erschütternde Familiengeschichte einzutauchen. Zuerst war ich etwas skeptisch, da ich mich mit Geschichten, in denen Kinder die Opfer sind, ziemlich schwer tue. Eigentlich vermeide ich Literatur, bei der Grausamkeit an Kindern thematisiert und geschildert wird. Nachdem ich mich jedoch auf diesen Krimi eingelassen hatte, habe ich beruhigt festgestellt, dass die Autorin auf detaillierte Gewaltszenen und Darstellungen von Brutalitäten durchweg verzichtet. Der Schwerpunkt der Handlung liegt vielmehr auf der Aufklärung des Verbrechens an Darijo Tudor und nicht so sehr auf der eigentlichen Tat. Elisabeth Herrmann selber beschreibt die Lösung eines Kriminalfalls als „Schnitzeljagd“, bei der man Schritt für Schritt ans Ziel – und dem Täter auf die Schliche – kommt. Ich denke, diese Bezeichnung trifft auch eindeutig auf „Der Schneegänger“ zu.

Einen weiteren Schwerpunkt hat die Autorin sicherlich auf die Darstellung ihrer Figuren gelegt. Alle Charaktere – auch die Nebenfiguren – sind punktgenau und glaubwürdig gezeichnet und passen sehr gut in das Gesamtbild der Geschichte. Hier stechen meiner Meinung nach besonders Sanela Beara, Darko Tudor – der Vater des ermordeten Jungen – sowie die Mitglieder der Familie Reinartz heraus. Natürlich sind nicht alle Charaktere gleichermaßen sympathisch, dennoch hat Elisabeth Herrmann bei der Erschaffung ihrer Figuren hervorragende Arbeit geleistet. Positiv aufgefallen ist mir weiterhin die ausgezeichnete Beobachtungsgabe der Autorin. Die Beschreibungen der Umgebung und der Schauplätze – wie die Millionärsvilla am Wannsee oder die Wolfstation in den Wäldern von Brandenburg – wirken sehr realistisch, anschaulich und detailgetreu. Auch die kroatische Kultur, die zwischendurch immer wieder thematisiert wird, wird dem Leser lebendig und authentisch näher gebracht. Hier wird deutlich, dass die Autorin eine äußerst gründliche und penible Recherche betrieben hat.

Gut finde ich außerdem, dass in „Der Schneegänger“ ein brisantes und gesellschaftlich aktuelles Thema angesprochen wird: der Umgang mit Kindern und mit Schwächeren. Mich hat diese Thematik betroffen gemacht, und ich habe beim Lesen oft eine gewisse Wut gegenüber den „Tätern“ empfunden. Trotzdem konnte ich genügend innere Distanz zu der Handlung und den Geschehnissen bewahren. Ob das an Elisabeth Herrmanns Schreib- und Erzählstil liegt, kann ich allerdings nicht genau sagen. Gegen Ende des Krimis bin ich auch innerlich ein wenig auf Abstand gegangen. Das lag dieses Mal definitiv am Erzählstil, denn die letzten Kapitel wirkten auf mich stückweise konstruiert und zu sehr „in Szene gesetzt“.

Insgesamt hat es Elisabeth Herrmann geschafft, einen lesenswerten, interessanten und intelligenten Kriminalroman zu verfassen – in der von ihr gewohnten hochwertigen Qualität.