Rezension

ein Jahreshighlight

Kinder ihrer Zeit - Claire Winter

Kinder ihrer Zeit
von Claire Winter

Bewertet mit 5 Sternen

Der Titel "Kinder ihrer Zeit" spiegelt sehr gut wieder, welches der Dreh- und Angelpunkt des neuen Buches von Claire Winter ist. Nämlich Zwillingsmädchen, die in den Wirren des Kriegsendes 1945 auseinandergerissen werden und die unterschiedlicher nicht aufwachsen könnten, bevor sie sich als junge Frauen wiedertreffen. Den Rahmen bildet die Trennung des Deutschen Reiches in die BRD und die DDR und die ersten Jahre bis zum Bau der Mauer quer durch Berlin.

Zu den Stärken der Autorin gehört sicherlich, dass man sofort eine enge Verbindung als Leserin zu den Hauptdarstellern spürt. Schnell hat man Emma und Alice ins Herz geschlossen, ist traurig, dass die beiden sich durch die einrückenden Russen in Ostpreußen aus den Augen verlieren, ja, schlimmer noch, glauben, die jeweils andere wäre gestorben. Während Emma mit der Mutter im Westen Berlins landet und dort behütet aufwächst, wird Alice von einem russischen Soldaten gerettet und lebt in einem Waisenhaus der DDR bis sie volljährig in eine kleine Wohnung ziehen kann. Die Schwestern sind tatsächlich Kinder ihrer Zeit und vor allem Kinder ihres Umfeldes, in dem sie aufwachsen. So sind beide in den unterschiedlichen gesellschaftlichen Systemen verwurzelt und haben einen festen Glauben daran, im jeweils besseren Staat zu leben.

Irgendwann wird Alice durch einen Zufall klar, dass ihre Schwester nicht gestorben ist, sondern tatsächlich im Westen lebt. Und da es vor dem Mauerbau einige Jahre noch möglich war, reist sie nach Westberlin und findet dort Emma. Die anfängliche Euphorie über die Wiedervereinigung weicht der Erkenntnis, dass inzwischen so einiges die beiden Zwillinge trennt und sie ganz unterschiedliche Vorstellungen vom Leben entwickelt haben. Es ist also bei weitem nicht alles eitel Sonnenschein.

Faszinierend ist, wie die politischen Gegebenheiten und der Machtkampf der Ost- und Westregierung das Leben der Schwestern beeinflussen und mit ihren Wünschen und Träumen aber auch mit dem Schicksal ihrer Freunde verstrickt sind. Dabei befinden wir uns phasenweise mitten drin im Geflecht feindlicher Spionageorganisationen, erfahren über die Pläne der DDR, sich auch Westberlin einzuverleiben oder im Ernstfall total gegen den Westen abzuriegeln, und die Wünsche der BRD, dass ein friedliches Nebeneinander auch die Hoffnung auf eine Wiedervereinigung sein könnte. Und die Russen und die Amerikaner wollen unbedingt auch noch ein Wörtchen mitreden. Mit allen Mitteln. Claire Winter schafft es mühelos auf verschiedenen Ebenen die Leserinnen zu fesseln. Emma hofft auf ein Glück mit einem ostdeutschen Wissenschaftler, Alice schwankt zwischen der Liebe zu ihrer Schwester und dem Pflichtbewusstsein für die DDR-Regierung, welche sie immer mehr unter Druck setzt, ihre Treue für ihr Land auch zu beweisen. Die Lage spitzt sich mehr und mehr zu und der Leser weiß, dass der tatsächliche Mauerbau alles zunichte machen und die Schwestern für viele Jahrzehnte wieder trennen könnte.

Ich bin rundrum begeistert von "Kinder der Zeit". Die Geschichte ist wahnsinnig spannend und dabei so voll von den kleinen und großen historischen Infos, die ich an einem guten historischen Roman so schätze. Dieses Mal bleibt die Autorin Schritt für Schritt an der Seite ihrer Protagonistinnen und führt uns ohne Rückblicke durch die ersten Jahre der DDR. Das war genau nach meinem Geschmack und ich habe am Ende ziemlich mitgefiebert, ob alles gut ausgeht.

Mein Fazit: Ich finde, Claire Winter hat sich mal wieder selbst übertroffen. Für mich gehört sie zur Riege der deutschen Autorinnen, deren Bücher man lesen muss, wenn man sich für die Vergangenheit interssiert und dabei dennoch auch eine unterhaltsame und bewegende Geschichte lesen möchte. Als besonderes Zuckerl durfte ich das Buch in einer Leserunde mit der Autorin genießen und habe noch viel mehr Hintergrundfakten und Rechercheergebnisse erfahren. Ein Jahreshighlight für mich. Vielen Dank dafür.