Rezension

Ein junger Lenz

Der Überläufer - Siegfried Lenz

Der Überläufer
von Siegfried Lenz

Bewertet mit 3 Sternen

Es ist der letzte Kriegssommer, die Nachrichten von der Ostfront sind schlecht. Der junge Soldat Walter Proska aus dem masurischen Lyck wird einer kleinen Einheit zugeteilt, die eine Zuglinie sichern soll und sich in einer Waldfestung verschanzt hat. Bei sengender Hitze und zermürbt durch stetige Angriffe von Mückenschwärmen und Partisanen, aufgegeben von den eigenen Truppen, werden die Befehle des kommandierenden Unteroffiziers zunehmend menschenverachtend und sinnlos. Die Soldaten versuchen sich abzukapseln: Einer führt einen aussichtslosen Kampf gegen einen riesigen Hecht, andere verlieren sich in Todessehnsucht und Wahnsinn. Und Proska stellen sich immer mehr dringliche Fragen: Was ist wichtiger, Pflicht oder Gewissen? Wer ist der wahre Feind? Kann man handeln, ohne schuldig zu werden? Und: Wo ist Wanda, das polnische Partisanenmädchen, das ihm nicht mehr aus dem Kopf geht? (von der Hoffmann & Campe-Verlagsseite kopiert)

Das Buch wirkt, als wäre es von zwei Autoren geschrieben. Die ersten Kapitel von einem, der jede Beschreibung, jede Szene und jede Handlung auswalzt und viele Sätze braucht, ehe er auf den Punkt kommt; einem, der konstruiert und sich in aufgesetzten Dialogen ergeht, statt die Geschichte fließen zu lassen.
In den späteren Kapiteln erkennt man dann Lenz’ Handschrift besser: Das Wichtigste gekonnt und klar formuliert, dicht beim Protagonisten ohne in ihn zu kriechen und sein Innerstes nach außen zu kehren, statt dessen Raum für die Gedanken des Lesers.

Es ist ein grausames Buch über die Wirklichkeit des Krieges, die Kämpfe, das Verstecken, die Angst und die sinnlosen Befehle, die falschen Entscheidungen. Und es ist völlig gleich, auf welcher Seite man kämpft. Ähnlich wie Remarque in seinen Anti-Kriegromanen schildert Lenz vor allem den Aberwitz des Krieges und das irrsinnige Töten, macht die Soldaten zu Menschen, die in ihrem Alltagsleben niemals auf die Idee kämen, sich mit Gewalt durchzusetzen, und die hier einfach drauflos schießen und absichtlich töten – auch unbewaffnete Zivilpersonen - und sich im Nachhinein eine Rechtfertigung zurecht legen.

Dass und warum Proska zu den russischen Truppen überläuft, bedarf keiner genauen Betrachtung. Die Liebe und der Zufall. Es könnte jedem passiert sein.
Letztlich veruracht der Wechsel ins feindliche Lager zwar zunächst das gute Gefühl, nun auf der „richtigen“ Seite, nämlich der der Partisanen zu stehen und die Nazis zu bekämpfen, aber das Töten und Sterben ist hier wie dort dasselbe.

Vielleicht war es nicht schlecht für den Roman, dass er erst jetzt aufgetaucht ist, denn über 60 Jahre später betrachtet man ihn weniger als ein Buch über einen Verräter als eine weitere laute Stimme gegen Krieg – die ebenso wenig gehört wird wie Tausende vor ihr und nach ihr.

Kommentare

Steve Kaminski kommentierte am 24. Mai 2017 um 21:07

Eine gute und nachdenkliche Rezi - auch mit dem Schlussabschnitt!