Rezension

Ein Kind verschwindet - subtil beunruhigendes Psychogramm

Sommer bei Nacht - Jan Costin Wagner

Sommer bei Nacht
von Jan Costin Wagner

Bewertet mit 4 Sternen

Mitten aus dem Gewimmel eines Schul-Flohmarkts verschwindet Jannis, der jüngere Bruder der Schülerin Sarah. Zeugen werden später aussagen, dass sie kurz zuvor einen fremden Mann beobachtet haben, der nicht zur Schul-Familie gehört und sich zugleich so unauffällig in der Menge bewegen konnte, dass niemand Verdacht schöpfte. Die Ermittler der Kripo Wiesbaden müssen sich bei ihren Zeugenbefragungen zunächst in die Gedankenwelt von Kindern versetzen und lernen, deren Beobachtungen richtig zu lesen und einzuordnen. Der Austausch mit seinem pensionierten Kollegen Landmann vermittelt dem Kripo-Mann Ben Lederer schließlich einen entscheidenden Hinweis, als er Landmanns bildhafte Vorstellung vom Auftreten des Täters und von dessen Umfeld wahrnimmt. Als sich Verbindungen zu einem ähnlichen Fall in Österreich ergeben, läuten bei den Ermittlern die Alarmglocken. Was haben ein Flohmarkt für Kinderartikel und ein Rummelplatz in Österreich als Tatorte gemeinsam – und welchen Einfluss hat es auf  Ermittlungen, wenn Eltern eines Entführungsopfers einen Asylantrag gestellt haben?

Jan Costin Wagner lässt seine Leser direkt in die Gedankenwelt von Tätern, Opfern und Zeugen blicken. Schon im ersten Handlungsstrang hatte ich den Eindruck, dass die betreffende Person den Lesern damit mehr über ihre Emotionen und Motive preisgibt, als gut für sie ist. Da die Ermittler weniger wissen als die Leser, folgt man mit höchst ungutem Gefühl Ben und Christian bei ihrer Arbeit und erhält tiefen Einblick in die Psyche der Kriminalkommissare. Einsatzleiter Christian Sandner z. B. beschäftigt sich in Gedanken mit dem Tod. Er „hat seine Mitte verloren“, wie Kollege Ben über ihn sagt. Im Dienst agiert Christian dagegen selbstkritisch und mit Empathie für die Situation von Zeugen in einer Vernehmung.

Auch wenn in diesem Roman ein Kind entführt und gefangen gehalten wird, empfinde ich die Vorgänge nicht als direkt grausam. Die Beunruhigung wächst eher subtil, je tiefer ich in die Motive der Figuren blicken kann. Da zwischen der Handlung und Straftaten an Kindern in der jüngsten Vergangenheit deutliche Bezüge herzustellen sind, sollten Betroffene mit Triggern rechnen. „Sommer bei Nacht“ ragt aus meiner Sicht heraus mit seinem Einblick in die Denkweisen der Beteiligten, eindrucksvoll besonders die der Kinder. Die Kimmo-Joentaa-Romane haben mir jedoch besser gefallen.