Rezension

Ein klassischer Familienroman

Der Flügelschlag des Glücks
von Lisa Jewell

Bewertet mit 4 Sternen

Einige Worte zum Inhalt

Die Familie Bird könnte einem Bilderbuch entsprungen sein. Liebe, Geborgenheit und Idylle bestimmen die Kindheit von Megan, Bethan und der Zwillingen Rory und Rhys. Doch ein fatales Osterwochenende bringt die Familie aus dem Gleichgewicht und langsam, aber sicher entfernen die Mitglieder des Bird-Clans sich voneinander, bis es sich anfühlt, als seien sie gar keine Familie mehr. Jahre später jedoch sind sie durch eine traurige Nachricht gezwungen, einander wieder in die Augen zu blicken – und die Geister der Vergangenheit ein für allemal aus der Welt zu schaffen.

Meine Meinung

Die Inhaltsbeschreibung hat mich direkt an einen Familienroman denken lassen, wie ich ihn schon oft gelesen habe: Etwas Schreckliches passiert, die Familie entfremdet sich, doch dann kommt der Punkt, an dem eine Aussprache erfolgt. Diese Struktur ist mir sehr bekannt, doch Lisa Jewell hat es trotzdem geschafft, mich mit der Nase voran in ihre Geschichte zu saugen.

Erzählt wird die Geschichte der Familie Bird, bestehend aus Colin und Lorelei sowie ihren Kindern Megan, Bethan, Rory und Rhys. Die ländliche Idylle brachte mich augenblicklich zum Träumen, denn sie erinnerte mich so lebhaft an meine eigene Kindheit. Diese Wärme und Liebe, Vertrautheit und Ruhe – da sehne auch ich als Wahlgroßstädterin mich wieder aufs Land zurück. Man kuschelt sich vollkommen in die wohlige Atmosphäre ein, die die Autorin heraufbeschwört, doch es bleibt nicht viel Zeit, um sich dort auszuruhen, denn der Hauptteil der Geschichte beschäftigt sich mit den individuellen Lebenswegen der Familienmitglieder und natürlich mit der Gegenwart im Jahr 2011, auf die der Roman immer wieder sein Augenmerk richtet. Insgesamt wird ein Zeitraum von zweiundzwanzig Jahren abgedeckt – dass in dieser Zeit unvollstellbar viel Unerwartetes geschehen kann, muss ich wohl nicht erwähnen.

“Ich liebe fremde Familiengeschichten. Da fühle ich mich gleich ein bisschen besser.” – S. 197

Die Handlung fließt mal träge, mal etwas schneller dahin. Lisa Jewell hat für ihr Thema genau das richtige Tempo gewählt. Ich mag es, wenn Familienromane sich nicht rasant, sondern gemächlich entwickeln, der Roman hat diesbezüglich also genau meinen Nerv getroffen. Langweilig wurde es nie, denn als Leser erhält man so viele Informationen über die Charaktere und ihre Entwicklung, dass man immer wieder mitdenken und sich einfühlen muss. Denn jeder der Charaktere hat seine ganz eigenen Gedanken, Gefühle und Beweggründe, die zum Teil erst gegen Ende der Geschichte zum Vorschein kommen.

Sehr schön fand ich die E-Mails von Lorelei, die die Autorin eingebaut hat, denn sie unterbrechen den gewohnten Lesefluss und lockern den Roman auf. Begeistert hat mich auch, dass sich die Perspektive ständig verändert und die Autorin jedem Familienmitglied unglaublich viel Aufmerksamkeit und Liebe schenkt. Als wäre jeder ihrer Charaktere ein echter Schatz für sie.

“Wie schaffte es ein Mensch bloß, all diese Entscheidungen zu treffen? Die großen genauso wie die kleinen? Woher wusste man, ob man das Richtige tat?” – S. 126

Individuell sind sie auf jeden Fall, die Personen, um die sich die Familiengeschichte dreht. Keine von ihnen ist ein hundertprozentiger Sympathieträger, denn das eine oder andere dunkle Geheimnis haben sie alle, wodurch sie sich immer mehr voneinander abschotten. Zugleich sind sie so realistisch und detailliert gezeichnet, dass ich sie vor meinem inneren Auge sehen und jeden von ihnen verstehen konnte.

Die älteste Tochter Megan ist das völlige Gegenteil ihrer Mutter: Statt chaotisch und leichtherzig ist sie penibel und streng. Trotzdem war sie für mich sehr gut fassbar. Zu ihrer Schwester Bethan habe ich etwas langsamer Zugang gefunden, konnte mir aber schon so manches pikante Detail denken, mit dem ich im Endeffekt sogar richtig lag. Zum Schluss mochte ich Beth am liebsten – vielleicht, weil sie ein Nesthäkchen ist und ich mir von Beginn an mehr Selbstständigkeit und Durchsetzungsvermögen gewünscht habe. Die Zwillinge Rory und Rhys sind eine Nummer für sich und so verschieden, wie Zwillinge nur sein können. Zu Rory habe ich am schwersten Zugang gefunden, was wohl mit seiner späteren Lebensweise zusammenhängt, die für mich so gar nicht in Frage käme. Colin, der Vater, blieb für mich anfangs etwas blass, gewann dann jedoch an Farbe. Lediglich zu Lorelei konnte ich keinerlei Bindung aufbauen, denn sie ist so in ihre eigene Welt verstrickt und hat eine so penetrante Art, dass es mir unmöglich war, Sympathie zu entwickeln. Doch ich denke, dass die Autorin genau dies beabsichtigt hat, daher passt Lorelei als Charakter sehr gut in das Geschehen.

“Weißt du, irgendwann gibt man auf, wenn jemand partout keine Hilfe annehmen will. So ist das nun mal – so leid es einem tut.” – S. 250

Teilweise ließ sich die Handlung sehr leicht erraten, was mir den Spaß aber nicht genommen hat. Wer es jedoch vollkommen Unvorhersehbar mag, wird mit diesem Buch wohl nicht glücklich. Auch die finale Auflösung des Rätsels konnte mich nicht sehr überraschen, da ich mir etwas in der Art schon gedacht hatte.

Der Roman illustriert, wie leicht eine Familie zerbrechen kann und wie die Krankheit des einen das Leben der anderen unaufhaltsam beeinflusst. Wie schwierig es ist, eine Familie zu bleiben, wenn alle Umstände sich ändern und niemand gewillt ist, offen zu sprechen. Wie hart es ist, sich nach Jahren der Entfremdung wieder gegenüberzustehen und zu wissen, dass nichts mehr ungeschehen gemacht werden kann.

Lisa Jewells Schreibstil ist sehr angenehm zu lesen. Von urkomisch bis tragisch vermittelt sie jedes Gefühl authentisch und in genau dem richtigen Maße.  Ich bin gespannt auf weitere Werke der Autorin!

Fazit

Der Flügelschlag des Glücks von Lisa Jewell ist ein angenehm zu lesender Familienroman, dessen Charaktere auf ganzer Linie überzeugen können, da man aus jeder Zeile herauslesen kann, wie liebevoll die Autorin die Persönlichkeiten gestaltet hat. Da die Handlung stellenweise allerdings sehr vorhersehbar und die Gesamtstruktur der Geschichte sehr typisch für das Genre war, gibt’s von mir vier empfehlungsgeladene Herzchen!