Rezension

Ein kluger Roman mit einer gut dosierten Prise Nostalgie

Die Melodie meines Lebens - Antoine Laurain

Die Melodie meines Lebens
von Antoine Laurain

Bewertet mit 5 Sternen

Was wäre, wenn...

Ich kann es nie erwarten, den neuesten Roman von Antoine Laurain in Händen zu halten, denn seine ungewöhnlichen, betörenden Geschichten, die er mit viel Charme, angenehmer Leichtigkeit, feinem Humor und französischem Flair erzählt, nehmen sofort gefangen und bezaubern durch Poesie, Originalität und Sinnlichkeit. Sein literarischer roter Faden – ein Objekt verändert das Leben eines in Alltagsmonotonie erstarrten Menschen auf wundersame Weise – gibt seinen Stories stets einen wohltuenden Hauch von modernen Märchen. Auch sein aktuelles Werk Die Melodie meines Lebens sollte laut Klappentext wieder in dieses Schema passen, doch dem ist – zu meiner großen Überraschung  – nicht so. Es unterscheidet sich deutlich von seinen Vorgängern, denn es enthält weder mirakulöse Verwandlungen noch romantische Verwicklungen. Alles in allem also völlig untypisch für Laurain, wäre da nicht die so vertraute Nostalgie, die ihre ganz eigene Magie innehat und mit der der Autor seinen originellen Geschichten stets eine ganz besondere Note verleiht.

Ein Brief mit deutlicher Verspätung

Alain Massoulier, ein Arzt in den Mittfünfzigern, fällt aus allen Wolken, als man ihm mit 33 Jahren Verspätung einen Brief aus dem Jahre 1983 zustellt, der bei einem Postumbau verloren gegangen war: Absender ist die Plattenfirma Polydor, die seiner ehemaligen New Wave-Band Hologrammes einen Plattenvertrag in Aussicht stellt. Alain kann es nicht fassen: Einerseits ist er glücklich, weil dieses Schreiben beweist, was er schon immer wusste: Der neuartige Sound seiner Band hatte wirklich Zukunftspotential. Andererseits trauert er dieser großen verpassten Chance hinterher, die u.a. auch dazu führte, dass er in die professionellen Fußstapfen seines Vaters trat, Mediziner wurde und nunmehr in seinen Augen ein recht monotones, spießiges Leben führt.

Auf der Suche nach den Hologrammes

Sehr zum Unverständnis seiner Frau Véronique macht sich Alain völlig aufgekratzt auf die Suche nach den einstigen Bandmitgliedern und wird im Internet schnell fündig: Beim damaligen Bassisten Sébastien Vaugan muss er nicht lange suchen: Der 53-Jährige ist Anführer der rechtsextremen Gruppe Weiße Macht des Abendlandes und macht des Öfteren mit Negativschlagzeilen von sich reden. Schlagzeuger Stanislas „Stan“ Lepelle ist zum Darling der zeitgenössischen Kunstszene avanciert: Mit seinen preisgekrönten Skulpturen und Installationen hat er Weltrenommee erlangt und kann sich vor Anfragen kaum retten. Auch über den ehemaligen Pianisten der Band, Frédéric Lepelle, findet Alain nach längerer Recherche heraus, dass er Frankreich den Rücken gekehrt und ein Hotel in Thailand eröffnet hat. Nur Bérangère Leroy, die Sängerin mit der sinnlich-melodiösen Stimme, in die er heimlich verliebt war, scheint zu seiner Verwunderung in der Versenkung verschwunden zu sein, was ihn ganz besonders betrübt.

Zu guter Letzt sucht Alain noch nach dem Texter der Band, Pierre Mazart, der seinen Lebensunterhalt als Antiquitätenhändler bestreitet, und nach dessen Bruder, Jean-Bernard Mazart (JBM), Business Wunderkind, der schon mit 23 Jahren ein bemerkenswert erfolgreicher Geschäftsmann war und die ersten Aufnahmen der Band in einem Tonstudio finanzierte. Im Gegensatz zu seinem Bruder Pierre hat JBM es weit gebracht: Der Überflieger mit einem Gespür für Wirtschaftstrends ist inzwischen Multimillionär, sein kometenhafter Aufstieg und seine einzigartige Erfolgsstory haben ihn zum medial allgegenwärtigen Superstar gemacht, den man nach einem beeindruckenden Auftritt in einer Polit-Talkshow als idealen neuen Präsidenten Frankreichs hypt.

Wiedersehen mit den Jungs von damals

Alain kontaktiert alle ehemaligen, auffindbaren Bandkollegen, um sie über den o.g. Brief zu informieren. Seine erneuten Begegnungen mit den Jungs von damalssind traurig, überraschend, aber auch schockierend. Während das Schreiben ihn gedanklich wieder in seine heißgeliebten 80er Jahre katapultiert, in der die Welt für ihn noch aufregend und voller Verheißungen war, lässt ihn die Gegenwart desillusioniert zurück. Er flüchtet sich in Tagträume, wie sein Leben wohl heute aussähe, wenn ihm mit den Hologrammes der Durchbruch gelungen wäre. Doch seine Luftschlösser sind nicht von Bestand, die Realität holt ihn schneller ein als ihm lieb ist. Und noch bevor er sich weiteren Illusionen hingeben kann, erfährt er etwas, was ihn ein weiteres Mal den Boden unter den Füßen verlieren lässt…

Nostalgie vs. Gegenwart

Antoine Laurains Die Melodie meines Lebens ist nicht nur eine wunderbar nostalgische Zeitreise in die kultigen, kapriziösen 80er Jahre mit all ihren Exzentrizitäten, Idolen und Eigentümlichkeiten, sondern auch ein absolut schonungsloses Porträt unserer heutigen digitalisierten Welt, das treffender nicht sein könnte. Laurain erzählt diese nachdenklich stimmende, außergewöhnliche Geschichte ohne viel Pathos, mit gutem Humor und einer Prise Wehmut. Die einzelnen Kapitel, die abwechselnd über das Leben der o.g. Figuren berichten, sind erzähltechnisch völlig unterschiedlich strukturiert, fügen sich aber am Ende zu einem großen Ganzen zusammen, das in sich absolut stimmig ist.

Brillant konzipierte Lebenswelten

Besonders gelungen sind meines Erachtens die Geschichten von JBM und Sebastien Vaugan, die Laurain brillant konzipiert hat. Die gänzlich unterschiedlichen Lebenswelten des omnipräsenten Multimillionärs und des aufmerksamkeitsheischenden Rechtsradikalen hat der Autor en détail erfasst bzw. exakt aus dem Leben gegriffen. Einmal mehr beweist er somit, dass er nicht nur ein aufmerksamer Beobachter und Kenner der Condition Humaine ist, sondern auch ein feines Gespür für die Träume, Abgründe und Desillusionierung der Menschen besitzt. Doch Laurain wäre nicht Laurain, wenn er nicht trotz der oftmals ernüchternden Realität, die unsere Träume in den Hintergrund rückt, die Liebe als wichtigstes Lebenselixir aufblitzen ließe. Dies mag vielleicht banal klingen, wahr ist und bleibt es aber trotz alledem…

Mein Fazit: Ein kluger Roman und ein absoluter Lesegenuss – nicht nur für Kinder der 80er!!!