Rezension

Ein Leben als Stricher in Reykjavik

Der Junge, den es nicht gab - Sjón

Der Junge, den es nicht gab
von Sjón

Bewertet mit 4 Sternen

Nach dem Tod seiner Mutter hat man Máni zu seiner Urgroßtante Karmilla gegeben, mit der auf einem Dachboden lebt. Der 16-Jährige verdient ab und zu Geld als Stricher, für die Verhältnisse im Jahr 1918 erzielt er damit hohe Einnahmen. 1918 erlebt Island durch die Einschränkung des Schiffsverkehrs als Folge des Ersten Weltkriegs eine Wirtschaftskrise. Im Dezember des Jahres wird die Insel unabhängig von Dänemark werden, das Land mit knapp 100 000 Einwohnern gehört damals zu den ärmsten Ländern Europas. Von einem Schiff im Hafen Reykjaviks aus breitet sich die Influenza aus, die Spanische Grippe. In kurzer Zeit ist Stadt wie leergefegt. Angesichts der vielen Kranken bricht die Versorgung (auch der gesunden Bevölkerung) zusammen; es wird nicht mehr gebacken und gewaschen. Da zur Zeit der Handlung der Vulkan Katla ausgebrochen war, lag durch die Aschewolke die Stadt im Dunkeln. In einer Art trotzigem Widerstand gehen die jungen Leute trotz der Ansteckungsgefahr durch die Grippewelle weiter ins Kino. Mánis erste Sucht, das Rauchen, wird schon bald von der Sucht nach Kinofilmen abgelöst. Es ist die Zeit des Stummfilmes und Reykjavik (mit damals gerade 15 000 Einwohnern) hat zwei Kinos. Als Máni aus üblen Alpträumen erwacht, sitzt ein völlig erschöpfter Arzt an seinem Bett, von seiner schweren Erkrankung hat der Junge nichts mitbekommen. Máni hilft beim Abtransport der vielen Grippetoten. Als Mánis Homosexualität offensichtlich wird, führt Dr Garibaldi die sexuelle Orientierung des Jungen auf den schlechten Einfluss der Filme zurück. Schließlich ist er sowieso gegen Kinofilme und ruht nicht, davor zu warnen. Jahre später kommt ein Filmteam nach Reykjavik, und in Mánis Vorgeschichte klärt sich überraschend, was mit Mánis Mutter geschehen war.

Sjón erzählt in seiner Novelle von knapp 150 Seiten kühl und distanziert das Schicksal eines elternlosen Jungen in Reykjavik im Jahr 1918. Der historische Hintergrund (mit Ausbruch der 'Spanischen Grippe' und Ausbruch des Vulkans Hekla) ist authentisch. Schon bald nach Ausbruch der Pandemie erkannten Ärzte die Rolle von Hafenstädten für die Verbreitung der schweren Grippeerkrankung, eine Schließung von Häfen zur Verhinderung weiterer Grippetoten konnten sie jedoch nicht durchsetzten. Die Verdichtung der Ereignisse auf die Stadt Reykjavik und auf die Person des betroffenen Jungen liest sich beeindruckend und hat meine Neugier für das historische Thema Influenza geweckt. Sjón, bekannt für seine knappe Sprache, erzielt mit diesem kurzen Text eine eigenartige Distanz zur Homosexualität seines jungen Protagonisten. Mánis Sexualität (außerhalb der Stricherszenen) wirkt wie etwas, das ihm zustößt, an dem er kaum beteiligt ist.