Rezension

Ein Leben lang sühnen …

Drei Tage und ein Leben - Pierre Lemaitre

Drei Tage und ein Leben
von Pierre Lemaitre

Bewertet mit 5 Sternen

Am 23. Dezember1999 überstürzen sich in dem kleinen französischen Ort Beauval die Ereignisse. Der Hund Odysseus, der liebste Spielgefährte und treuer Begleiter des 12jährigen Antoine, wird von einem Auto angefahren und daraufhin von seinem Besitzer, dem Nachbarn Monsieur Desmedt, vor den Augen des Jungen erschossen. Diesen packt eine rasende, unkontrollierbare Wut, zumal die Tat nur geschah, um die Tierarztkosten zu sparen. Antoine rennt in den Wald, kann sich nicht mehr beherrschen und schlägt zunächst sein Baumhaus, in dem er oft mit dem Hund war, kurz und klein. Als dann noch Rémi, der 6jährige Sohn des Nachbarn, hinzukommt, geschieht es. „Warum hat dein Vater das gemacht?“, brüllt er ihn an und in blinder Raserei packt er einen Stock und schlägt auf ihn ein. Rémi bricht zusammen, rührt sich nicht mehr, ist tot – und Antoine ist ein Mörder …

Pierre Lemaitre, geb. 1951, war als Lehrer für Literatur in der Ausbildung von Bibliothekaren tätig, bevor er Schriftsteller und Drehbuchautor wurde. Für seine Werke erhielt er mehrere französische Auszeichnungen und bekam 2013 den wohl bedeutendsten französischen Literaturpreis, den Prix Goncourt. Der Autor lebt heute in Paris.

Dass der 12jährige Antoine den 6jährigen Rémi erschlagen hat, darf man verraten, denn es ist der Auftakt und der Dreh- und Angelpunkt des Romans. Es mindert auch keineswegs die Spannung, im Gegenteil, sie steigert sich dadurch ins beinahe Unerträgliche. Was wird Antoine jetzt tun? Wird die Tat entdeckt werden? Wird man Antoine verdächtigen und was geschieht dann mit ihm? Als Leser fühlt man sich mit dem Jungen verbunden, empfindet intensiv seine Schuldgefühle, ist an seiner Seite, bangt mit ihm und hofft, dass doch noch alles gut wird, obwohl man weiß, dass nichts mehr gut werden kann. Großartig, wie der Autor mit den Gefühlen des Lesers spielt. Hoffen und Bangen wechseln rasend schnell und es scheint beinahe wie eine Erlösung, als am 25. Dezember 1999 der Jahrhundertsturm ‚Lothar‘ die Ortschaft heimsucht. Die Zerstörung ist gewaltig, die Suche nach dem verschwundenen Rémi wird zunächst eingestellt.

Mit großem erzählerischem Können, viel psychologischem Einfühlungsvermögen und ohne anzuklagen beschreibt der Autor die psychische Verfassung des Jungen, der mit der Lage alleine klar kommen muss. Ebenso intensiv berichtet Lemaitre von den verzweifelten Eltern, die die Hoffnung, den Jungen noch lebend zu finden, nie aufgeben wollen. Antoine wollte nicht töten, muss nun aber mit seinen Schuldgefühlen zurechtkommen. Seine Hilflosigkeit in der Situation, seine Angst vor Entdeckung, seine Gewissensnöte, seine Reue und seine Sorge um den guten Ruf seiner Mutter treiben ihn beinahe zum Selbstmord. Immer und immer wieder malt er sich aus, was ihm alles geschehen könnte. Auch als Leser ist man ratlos, sucht nach einer Lösung. Die scheint gefunden, als Antoine Jahre später Medizin studiert und sich zusammen mit seiner Freundin im Ausland humanitären Projekten widmen will. Doch dann wird ihm ein anderer Fehler zum Verhängnis: (S. 248): „Das war seine Bestrafung: seine Strafe in aller Freiheit absitzen, zum Preis eines ganzen Lebens.“ Ein sehr kluger und schlüssiger Schluss, mit dem man so nicht gerechnet hätte, rundet die Geschichte stimmig ab.

Fazit: Großartiges Buch – meine absolute Leseempfehlung!