Rezension

Ein Lesegenuss

Goldene Jahre - Arno Camenisch

Goldene Jahre
von Arno Camenisch

"Auf zum Mond, sagt die Margrit und dreht den Schalter, die gelbe Leuchtreklame auf dem Dach vom Kiosk geht an. Sie tritt zur Türe vom Kiosk raus und schaut zur Leuchtreklame hoch. Eine Freude ist das, wie schön sie leuchtet, sie lächelt, da geht einem grad das Herz auf, wenn wir am Morgen die gelbe Leuchtreklame einschalten, in aller Herrgottsfrühe, wenn noch die letzten Sterne am Himmel sind."

Ein Kiosk mit Benzinzapfstelle und einer Leuchtreklame in einem Schweizer Dorf, der schon seit 51 Jahren von zwei Frauen betrieben wird. Alltagsleben: Es gibt Eis zu kaufen, Panini-Sammelbilder für die Schulkinder, und was der Pfarrer kauft, verraten Margrit und Rosa-Maria niemanden, denn das gäbe einen Scandal. Überhaupt wissen sie so manche Geheimnisse, besonders von Liebenden. Und sie erinnern sich noch an ihre Kunden, seien es alteingesessene Dörfler oder Prominenz, die nur einmal vorbeikam wie Eddy Mercks auf der Tour de Suisse oder Ornella Muti. In ihren Notizheftchen findet sich die Chronik des Dorfes und seiner Bewohner, eng verbunden mit weltbewegenden Ereignissen wie der Mondlandung oder dem Reaktor-Unglück in Tschernobyl. 

Es wirkt wie eine heile Welt - aber die beiden Frauen sind überhaupt nicht kindisch. Sie beobachten sehr genau, wie die Schneegrenze sich immer weiter verschiebt, und sie sind sich auch bewusst, dass die "Umfahrung" ihnen die Kundschaft wegnimmt. Doch sie lassen sich den Blick auf ihre Welt nicht vermiesen: "Solange wir so gut in Schuss sind, kann es rundherum toben und stürmen, wie es will, das hält uns nicht auf. Die Rosa-Maria richtet ihre Brille mit Goldrand und lächelt. Die Reklame auf dem Kiosk leuchtet."

Dieses Buch ist gleichzeitig Dorfchronik und Weltgeschichte, es beschreibt Vergangenheit, Gegenwart und lässt die Zukunft erahnen. Der Schreibstil ist angenehm; das Buch besteht aus den Dialogen der beiden Frauen und ihren Gedanken. Die Liebe und die Verwurzelung mit der Heimat wird auch durch den Dialekt deutlich, der aber auch mir als Fremdem verständlich wird und ans Herz wächst. Für mich die größte Stärke des Buches ist seine Herzenswärme. Die beiden alten Frauen erinnern sich an all die schönen Stunden, sie genießen die kleinen Freuden des Lebens, sind voller Engagement bei der Arbeit, finden Sinn in dem, was sie tun und sind in die Gemeinschaft eingebunden. Zufällig habe ich gerade vorher ein Buch über "Positive Psychologie" gelesen und finde hier all die Aspekte, die ein Leben lebenswert machen. Bewegend!

Das Buch steht auf der Nominierungsliste zum Deutschen Buchpreis 2020 - und für mich war es ein Lesegenuss.