Rezension

Ein literarisches Zeitzeugnis mit psychologischem Tiefgang

Die Welt war so groß - Rona Jaffe

Die Welt war so groß
von Rona Jaffe

Bewertet mit 5 Sternen

„Ein Klassentreffen ist mehr als nur eine sentimentale Reise. Es ist auch eine Antwort auf die Frage, die bei fast allen von uns im Unterbewusstsein lauert: Haben es sie anderen besser gemacht als ich? Es hätte immer auch andere Möglichkeiten gegeben, andere Wege, sogar für diejenigen, deren Leben durch Gesetze unserer Zeit von vornherein festgelegt war.“

Zwanzig Jahre nach ihrem Collegeabschluss beschließen Annabel, Chris, Daphne und Emily beim feierlichen Klassentreffen dieser Frage nachzugehen: Wäre ich denselben Weg noch einmal gegangen oder hätte ich andere Entscheidungen getroffen? In den Fünfziger Jahren haben sie studiert und große Hoffnungen an ihre Zukunft geknüpft.

Die große und schlanke Annabel mit ihrem schulterlangen kupferfarbenem Haar, den grünen Augen, hohen Wangenknochen und einigen Sommersprossen. Sie war damals so romantisch – war es noch – war ständig verliebt und glaubte den Männern, wenn sie sagten, sie liebten sie. Warum hätte sie damals bis zur Ehe warten sollen? Sie war schließlich kein Mauerblümchen wie die anderen Mitbewohnerinnen. Doch gerade die Entscheidung, sich über die Konventionen der Zeit hinwegzusetzen, sollte ihr den Hass der Mitstudentinnen sowie einen gewissen Ruf bei den Männern verschaffen.

Die äußerlich unscheinbare Chris mit Mittelscheitel und glatten braunen Haaren, einer Hornbrille und Collegekleidung, die wie eine strenge Schuluniform wirkte, interessierte sich dagegen überhaupt nicht für Jungs. Ihre ganze Leidenschaft galt der Geschichte, hauptsächlich der Geschichte des französischen Mittelalters, und der Literatur – immer steckte ihre Nase in einem Buch. Schlagartig ändert sich das, als sie im Französischkurs Alexander kennenlernt. Von nun an setzte sie alles daran, ihn zu erobern.

Daphne, die große Schönheit mit der honigfarbenen Haut, dem goldblonden Haar und den kornblumenfarbenen Augen, wird von allen Golden Girl genannt. Nicht so sehr ihr Aussehen als „der Glanz strahlender Überlegenheit, der sie wie Sonnenlicht überflutete, wohin sie auch ging“ brachte ihr diesen Namen ein. Neben ihrer Schönheit konnte sie gewandtes, kultiviertes Auftreten, ein untrügliches Stilgefühl, eine einwandfreie Herkunft, Selbstvertrauen und Intelligenz ihr Eigen nennen. Und „niemand war neidisch auf Daphne – sie war zu überlegen. Neidisch konnte man nur auf jemanden sein, der eigentlich nicht besser war als man selbst und ungerecht bevorteilt schien.“ Kein Wunder, dass ausgerechnet sie den meistbegehrten Collegestudenten, Richard, erobern sollte. Doch Daphne hat ein dunkles Geheimnis, das sie vor allen, aber ganz besonders vor Richard, geheim zu halten versucht: sie ist Epileptikerin.

Und die kleine dunkelhaarige Jüdin Emily mit der Porzellanhaut, die sich im Vergleich zu den anderen als minderwertig empfindet. Denn Annabels Vater war ein berühmter Herzchirurg, Chris' Vater war Chemieprofessor an den Columbia University und Daphnes Vater Seniorpartner im angesehendsten Anwaltsbüro von New York. Ihr eigener Vater besaß dagegen nur eine Kette von Schuhgeschäften. Ihr Traum ist es, auf dem College ihren zukünftigen Ehemann kennenzulernen, am besten einen, der auch Jude ist und der Arzt werden möchte. Sie kann ihr Glück kaum fassen, als sie diesen Traummann tatsächlich findet und er sich auch in sie verliebt. Obwohl sie nicht darüber sprechen, wissen sie, dass sie nach ihrem Abschluss heiraten werden.

Wie wird sich ihr Leben in den sechziger und siebziger Jahren entwickeln? Werden ihre Hoffnungen und Wünsche an ein erfülltes Leben in Erfüllung gehen? Und werden sie die richtigen Entscheidungen treffen?

Oft kann man sich nicht entscheiden, welches der vier Frauenschicksale einem als Leser besonders nahe geht, welches Leben man vornehmlich als tragisch empfindet. Ob dasjenige von Annabel, die niemals die große Liebe finden soll, dasjenige von Chris, deren Liebe zu Alexander sie an den Rand der Selbstzerstörung bringt, dasjenige von Daphne, die zwanzig Jahre lang ihre Krankheit vor ihrem Ehemann geheim hält, aus Angst er könnte sie verlassen oder dasjenige von Emily, die zu lange in einem Traum gelebt hat, um die Realität des Alltags ertragen zu können.

Rona Jaffe zeichnet diese vier Figuren sowie weitere männliche Charaktere mit psychologisch sicherer Hand. Sie findet immer das richtige Maß an Beschreibung, Innensicht und Dialog. Selbst in den Dreißigern geboren, liefert uns die Autorin als äußerst intelligente Zeitzeugin ein detailliertes und analytisch tiefgehendes Bild der fünfziger, sechziger und siebziger Jahre. Eine bereichernde Lektüre, die jedem Leser zu empfehlen ist, der sich nach psychologischem Tiefgang und einem literarischen Zeitzeugnis sehnt. Ich persönlich werde mir sicherlich weitere Werke Rona Jaffes zu Gemüte ziehen!