Rezension

Ein Loch ist nicht immer „ein Nichts mit was drumrum“

Das flüssige Land
von Raphaela Edelbauer

Bewertet mit 4 Sternen

Ein Merkmal der Bewohner von Groß-Einland ist, dass „der Mensch als zu einer Landschaft gehöriges Wesen verstanden“ werden muss (S. 91). Deshalb passen die Groß-Einländer perfekt zu ihrer Heimat, denn so wie seine Bewohner einen dunklen Fleck auf Seele und Gewissen haben, hat der Ort einen dunklen Fleck unter sich, ein poröses Fundament, ein allegorisches „Loch“. Stets vom Einsturz bedroht, entstand der Ort nach den Zerstörungen des Krieges dennoch aus den Trümmern an derselben Stelle als Kopie seiner selbst, als hätten die Groß-Einländern nichts gelernt. Sie arrangierten sich mit dem Loch, unterwarfen sich dem Großkapital, das die Gesellschaft schließlich unter ein pseudofeudales Joch beugte, regiert von „der Gäfin“, und lernte: „Was man in das Loch warf, waren Dinge, für die man sich schuldig fühlte.“ (S. 315).

Diese Zusammenhänge decken sich in einer sich girlandenartig durch die Handlung windenden Suche nach den eigenen Wurzeln auf, auf die sich die Extrem-Physikerin Ruth Schwarz begeben hat: Ihre jüngst verunglückten Eltern stammten aus Groß-Einland und waren ebenfalls dessen dunkler Geschichte auf der Spur. Ruth Schwarz ist nicht zufällig eine Physikerin, die sich mit Zeitphänomenen befasst, denn Autorin Raphaela Edelbauer geht s ja darum, die Gleichzeitigkeit von vergangenen Taten und heutiger Schuld darzulegen; zu zeigen, dass verdrängte Schuld sich zusammenballt wie ein Schwarzes Loch, das mit seiner enormen Gravitation selbst die Zeit nicht mehr entrinnen lässt (S. 185). Dass es um Verbrechen aus der Zeit des Nationalsozialismus geht, erfährt man wörtlich erst auf S.145 - oder aus dem Klappentext … Viele Hinweise sind aber zuvor in die Lektüre gestreut, nicht zuletzt der Name Groß-Einland, denn zur Zeit der fraglichen Verbrechen war der Ort Teil Groß-Deutschlands. Wie Zeit sich streckt und windet, beugt und verschlingt, führt der Text selbst vor, der schnell springt, ganze Jahre in Sätzen überfliegt, sich aber auch zum Minutenprotokoll stauchen kann (S. 250 ff.).

Die Stärke des Romans liegt in den durchdachten Details, der kräftigen Sprache (die Autorin hat „Sprachkunst“ studiert; manchmal – aber selten – wirkt ein Satz allerdings auch wie aus einem sprachkünstlichen Seminar), und im Gesamtarrangement, in dem vom Maskenhändler bis zum Fundamentenbröseln, vom Zeitdehnen und -stauchen bis zur naiv-genialen Hauptfigur Ruth alles passt.

Gleichzeitig entströmt dieser Stärke auch die Schwäche: Der Tonfall dröhnt ständig mit doppelter Bedeutung, bei der man sich fragt, auf welche Metaebene man noch durch das „Loch“ stürzen könnte - um dann am Ende bei eigentlich nur einer Doppelbödigkeit zu landen (ja: Ich hatte den Klappentext nicht gelesen). Das ist mir oft zu gewollt, zu parabelartig, bisweilen ermüdend redundant.

Dennoch: „Das flüssige Land“ mahnt poetisch die gesellschaftliche wie private Erinnerungskultur, dass Verdrängen nur Abgründe schafft, weil unsere Welt jederzeit nicht nur aus Gegenwart besteht.