Rezension

Ein Mädchen, das kein Opfer sein will

Das wirkliche Leben - Adeline Dieudonné

Das wirkliche Leben
von Adeline Dieudonné

Bewertet mit 4 Sternen

In einem Fertigbauhaus am Waldrand wohnt die Ich-Erzählerin der Geschichte, ein zehnjähriges Mädchen, zusammen mit ihren Eltern und ihrem Bruder Gilles. Das liebste Hobby ihres Vaters ist die Großwildjagd und das Zimmer mit den Trophäen für die Kinder streng tabu. Die meiste Zeit verbringt er mit Whisky vor dem Fernseher. Doch es brodelt beständig in ihm, bis er wieder explodiert und seiner Frau Gewalt antut, während die Kinder auf ihre Zimmer fliehen. Als sich vor den Augen der Geschwister ein schrecklicher Unfall ereignet, zieht sich Gilles gänzlich zurück. Seine Schwester ist fest entschlossen, in die Vergangenheit zu reisen und alles wieder gut zu machen, damit er wieder lachen kann. Doch über die Jahre spitzt sich die Situation im Haus immer weiter zu.

Das Cover des Buches zeigt einen Hasen, der Raum für Interpretation lässt. Er könnte die Protagonistin symbolisieren, die clever und flink ist und versucht, nicht als Beute zu enden. Zu Beginn des Buches ist sie zehn Jahre alt und hat eine enge Beziehung zu ihrem Bruder. Deshalb ist sie wild entschlossen, ihn zu retten, als er sich nach einer gemeinsam erlebten Tragödie verändert. Sein Verhalten wirkt auf sie, als hätte die unheimliche Hyäne aus dem Trophäenzimmer sich in seinem Inneren eingenistet.

Die Geschichte hat ein hohes Tempo und zog mich schnell in seinen Bann. Die Versuche des Mädchens, ihren kleinen Bruder wieder zu dem zu machen, der er früher wahr, fand ich berührend. Doch die Erkenntnis, dass man die Zeit nicht einfach zurückdrehen kann, lässt sie allmählich erwachsen werden. Ihre Mutter ist für das Mädchen wie eine Amöbe. Sie bleibt passiv und wird immer wieder das Opfer der Gewalt ihres Mannes. Die Beschreibungen seiner Gewaltausbrüche sind explizit und schockierend. Die Protagonistin selbst versucht, ihrem Vater möglichst aus dem Weg zu gehen und beginnt, Dinge bewusst vor ihm geheim zu halten.

Ich habe mitgehofft, dass die Erzählerin ihren Weg gehen kann und sich nicht in die Opferrolle drängen lässt. Die Situation spitzt sich über die Jahre immer weiter zu. Die Beziehung ihres Vaters zu ihrem Bruder rückt dabei immer weiter in den Fokus und sorgt für bedrückende Momente. Schließlich kommt es zu einer Schlüsselszene rund um das Thema Jäger und Beute, die von der Autorin sprachgewaltig erzählt wird. Die Nebenhandlung rund um einen Nachbarn der Erzählerin fand ich hingegen nicht ganz stimmig. Das Ende des Buches lässt mich mit gemischten Gefühlen zurück.

„Ein wirkliches Leben“ erzählt die Geschichte eines Mädchens, das kein Opfer sein will. Es setzt auf starke Szenen, die schockieren und berühren. Insgesamt ein wirklich lesenswertes Buch!