Rezension

Ein Meisterwerk: Wer 4 3 2 1 nicht liest, ist selber schuld.

4 3 2 1 (4321) - Paul Auster

4 3 2 1 (4321)
von Paul Auster

Bewertet mit 5 Sternen

Ausnahmsweise stelle ich meine Rezension zum englischen Hörbuch noch einmal hier ein: kein Schwein findet sie, diese Lesetrüffelschweine, die die besten Bücher erschnüffeln, zu denen 4 3 2 1 gehört, sollen sie aber finden!

4 3 2 1 ist der erste Roman, den ich von Paul Auster lese. Eigentlich lese ich ihn nicht, sondern höre ihn im Original, gelesen von Paul Auster himself, der eine wunderbare Stimme hat und super liest. Unaufgeregt. Wie ich es mag. Die Gepflogenheit, aus einer Lesung ein Theaterstück zu machen, ist nämlich nicht nach meinem Gusto, sie unterbindet die Interpretation durch den Hörer und legt ihn auf die Interpretation der Darsteller fest.

4 3 2 1 ist ein Meisterwerk. Von der ersten bis zur letzten Seite einfach nur: genial.

In vier verschiedenen Pespektiven stellt Paul Auster seine großartige Erzählung über die Kalamitäten des Jungseins und die Anfänge des Erwachsenseins in den Raum. Dabei kreisen alle vier Stränge um ähnliche Personen, die Schlüsselpersonen kommen immer wieder vor. Archibald Ferguson ist Dreh- und Angelpunkt, seine große Liebe Amy Schneidermann verliert man nie aus den Augen und seine Mutter Rose ist eine faszinierende Persönlichkeit in jeder Ausprägung. Es gibt freilich so viele Frauen im Roman, dass man manchmal ein wenig den Überblick über Achies Liebesleben verlieren könnte, doch seine Freunde und seine Familie sind immer ähnlich.

Aber 4 3 2 1 ist weit mehr als ein bloßer Familienroman. Weit mehr als das Spiel „was wäre wenn“, da Auster das Leben seines jugendlichen Helden in vier verschiedenen Variationen durchspielt, verwirrend ähnlich und doch unterschiedlich. Es ist ein Porträt hauptsächlich der 60er Jahre Amerikas mit den entsprechenden Themen der Zeit, Vietnamkrieg, Bürgerrechtsbewegung, Rassenkonflikte, Studentenunruhen, die Entstehung von Black Power, über die ideologisch motivierten Attentate mit tödlichem Ausgang auf Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, über die jeweilige politische Atmosphäre unter verschiedenen amerikanischen Präsidenten, Eisenhower, Kennedy, Johnson und Nixon – kurz, ein Zeitporträt, wozu natürlich auch Musik, Literatur und Kunst gehören. Und Sport! Was wäre Amerika ohne Sport. Ohne Baseball. Ohne Basketball.

 

4 3 2 1 ist ein Meisterwerk, denn es präsentiert Geschichten in der Geschichte, es ist lustig, tragisch und mit unvergleichlichem Esprit geschrieben. Genau genommen ist es eine Ringgeschichte. Am Ende sind wir wieder am Anfang.

Da Archies „Sturm und Drangjahre“ dargestellt werden, geht es in dem Roman natürlich auch um die Liebe. Und um Sex. Ich bin mir nicht sicher, ob es mehr um Bücher oder mehr um Sex geht. Was den Sex angeht, Paul Auster kann über Sex schreiben! Diesem Thema sind nur wenige Autoren gewachsen. Entweder kommen sie groschenheftmässig daher oder pornographisch. Auster ist sehr direkt, aber nicht pornographisch.

 

Unerwartete Wendungen halten den Leser in einer gewissen Grundspannung.

Dialoge gibt es nicht sehr viele. Doch man vermisst sie nicht. Es wird erzählt. Großartig und tiefgründig erzählt. Oft in langen Monologen philosophiert. Über das Judentum, über Verlust und Tod, über Freundschaft, über die Eltern-Kind-Beziehung(en), über die Leidenschaft zum Leben, über die Frage, ob es Gott gibt, eigentlich über alles.

4 3 2 1 ist auch ein Buch, oder sogar vor allem ein Buch darüber, wie ein Autor zu seiner Story kommt. Und zum Glück spielt auch Paris eine zentrale Rolle. Paris und New York und ein paar andere Schauplätze erfreuen den Leser. Auch Paul Auster lebte einige Jahre in Paris, wenn er französisch spricht, schmilzt man dahin.

4 3 2 1 ist wie ein langer, ruhiger Fluss, an dessen Ufern sich das Leben abspielt. Wenn es überhaupt einen Fehler hat, dann der, dass es trotz seiner epischen Länge immer noch zu kurz ist. Denn man hätte gerne gewusst, wie Archie sein Leben weitergelebt hat.

Ich habe in die deutsche Übersetzung des Werks geschaut, sie ist gut, ohne Frage, doch die Harmonie der Sprache, Rhythmus und Melodie, die Paul Austers Roman durchziehen und auszeichnen, vermochte sie nicht vollständig zu transportieren. Oder vielleicht sogar, überhaupt nicht. Seinen Witz aber schon.

Fazit: Lesehighlight 2018. Wer 4 3 2 1 nicht liest, ist selber schuld.

Kategorie: Anspruchsvolle Literatur
Verlag: Macmillan Audio 2017

Kommentare

Emswashed kommentierte am 03. Juni 2019 um 07:24

Bin anscheinend kein Trüffelschwein, werde jetzt aber mal ein Auge offenhalten!

Paperboat kommentierte am 03. Juni 2019 um 09:03

Hihi, finde ich gut! Klar möchte man, dass die Bücher, die man selbst so überwältigend gut fand, bekannter werden! So geht es mir ständig mit Jasper Fforde!

Gittenen Bücherfresserchen kommentierte am 04. Juni 2019 um 19:46

Von Paul Auster vorgelesen! Ich habe das Buch und war total begeistert ( wie von den meisten Auster Romanen). Normalerweise mag ich selten Hörbücher, da ich entweder bei den Vorlesern regelrecht einschlafe ( mit offenen Augen), oder sie unmöglich betonen ( da Frage ich mich oft, wo haben die lesen gelernt). Wenn aber Paul Auster himself das Buch vorliest, dann kann es gar nicht schlecht sein und müsste ich mir es  noch zulegen 

wandagreen kommentierte am 04. Juni 2019 um 19:48

Du kannst nicht einschlafen, wenn du spazieren gehst oder im Garten rumkramst oder bügelst oder oder oder ...

Gittenen Bücherfresserchen kommentierte am 04. Juni 2019 um 20:15

Doch der Kopf schläft dann ein

wandagreen kommentierte am 04. Juni 2019 um 19:51

Ich ging sehr häufig spazieren als Paul mir vorlas - nur für mich only - und ich habe so häufig brüllend gelacht, dass die Leuts dachten, "ne Irre". Manchmal sagte ich auch: "NEIN, Paul, WIRKLICH?" Wir haben eine innige Beziehung aufgebaut.

Gittenen Bücherfresserchen kommentierte am 04. Juni 2019 um 20:16

: ) :  )  : )  : )

FIRIEL kommentierte am 30. Juni 2019 um 20:12

Ich fand das Buch auch rundherum klasse. Meine Rezi steht aber beim Hardcover. Leute, lest es!