Rezension

Ein Mikrokosmos erklärt die Welt

Das Wesen der Dinge und der Liebe - Elizabeth Gilbert

Das Wesen der Dinge und der Liebe
von Elizabeth Gilbert

Bewertet mit 5 Sternen

Elisabeth Gilbert legt mit ihrem neuen Roman tatsächlich einen wahrhaften Jahrhundertroman vor. Über 80 Jahre begleitet der Leser die Heldin des Buches auf knapp 700 Seiten durch eine Zeit, die mit ihren Entdeckungen und Forschungen die modernen, rasanten und monströsen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts in allen Facetten förderte und prägte, und deren Folgen bis in unsere Zeit hinein andauern.

Alma Whittaker ist fünf Tage jünger als das Jahr 1800 und in eine Familie hinein geboren, die sich vor allem auf Botanik, Geschäftssinn und Bildung versteht. Ihr Vater, Henry Whittaker, konnte sich durch die richtige Portion Abgebrühtheit und einer ordentlichen Schauffel Glück von seiner ärmlichen Herkunft befreien, umsegelte die Welt und verdiente sich mit seinem grünen Daumen eine goldene Nase. Nach der Wahl einer zu ihm passenden Ehefrau mit botanischem Familienhintergrund kehrte er Europa den Rücken und ließ sich in der neuen Welt, in den Vereinigten Staaten nieder. In Philadelphia erwarb er ein großzügiges Stück Land, baute ein ebenso großzügiges Anwesen darauf sowie diverse Gewächshäuser und fuhr fort, seinen Reichtum zu vermehren. Almas Mutter Beatrix, eine geborene van Devender, ließ ihre mit der Hochzeit unzufriedene Sippschaft in Holland zurück und nahm aus der Heimat nur ihr Dienstmädchen Hanneke de Groot, zahlreiche seltene Tulpenzwiebeln sowie ihre tadellosen Erziehungsansichten mit. So lernte Alma von klein auf holländisch, botanisieren und ihren Verstand zu benutzen.
Das mag als Einführung zu Gilberts Roman dem ein oder anderen nicht ganz genügen, doch was, wie viel und wie genau soll man herauspicken oder zusammenfassen aus dem reichhaltigen Leben der Whittakers? Almas Begeisterung für die Welt der Pflanzen ist bemerkenswert und faszinierend, ihr Verstand muss den Dingen auf den Grund gehen und sie lässt nicht locker, wenn sie das Interesse gepackt hat. Zwischenmenschlich betrachtet ist jedoch für sie als Frau des Verstandes die Zeit des 19. Jahrhunderts eine Katastrophe. Während sich die Wissenschaften begründen und jeden Tag neue Entdeckungen publiziert werden, erfährt Alma keine Aufklärung im warmherzigen Umgang mit Menschen. Ihr wird beigebracht, sich ihres Verstandes zu bedienen. Gefühlsäußerungen lässt die Mutter nicht gelten und so findet Alma nur schwer Zugang zu Menschen außerhalb gelehrter Themen, weil sich Gefühle für sie nicht so selbstverständlich erschließen lassen wie wissenschaftliche Thesen und Abhandlungen. Die zeitgenössischen gesellschaftlichen Ansichten und Vorstellungen über Tugend und Moral tragen zudem verstärkt dazu bei, dass Alma sowie ihre Ziehschwester Prudence vor allem im Verborgenen lieben und begehren, unnötige Opfer bringen und verletzt werden, ohne Trost zu finden. In Gilberts Roman lebt aber ebenso die Hoffnung. Eine Hoffnung und der Appell, das Leben in die eigene Hand zu nehmen. Sich nicht allen Gegebenheiten klaglos und unabänderlich hinzugeben, sondern ab und zu mutig zu sein und nicht nur die Welt in Frage zu stellen, sondern auch sich selbst. Als Alma dies verstanden hat, wird sie belohnt. Sie teilt sich eine im Laufe ihres Lebens mühsam und schmerzlich errungene Ansicht mit einigen wenigen beispiellosen Denkern ihrer Zeit, wenn auch eine kleine Leerstelle bis zum heutigen Tag nicht wissenschaftlich zu erschließen scheint.

Vom Wesen der Dinge und der Liebe ist ein Roman in epischer Breite. Er umfasst ein ganzes Jahrhundert, nimmt viele, viele zeitgenössische Ströme und Entwicklungen in sich auf, führt den Leser zweimal um die ganze Welt und findet seine wahre Schönheit in einem Mikrokosmos, der schließlich die ganze Welt erklärt. Im Erzählen trifft die Autorin genau den Ton der Zeit, bleibt dennoch leicht verständlich und hat sich von den großen Autoren des 19. Jahrhunderts die Atmosphäre abgeschaut, während sie sich dankenswerterweise an langatmigen, verschachtelten Sätzen kein Beispiel nahm. Gilberts Beschreibungen lassen farbenfrohe, lebendige Bilder im Kopf entstehen, die einen interessanten Kontrast zu den teilweise eintönigen Lebensumständen der Figuren samt ihren einsam machenden Leidenschaften bilden. Alma Whittaker ist mir eine gute Freundin geworden und ich habe noch nie schöner und auf so vielen Seiten über Botanik gelesen.