Rezension

Ein Nest der Trostlosigkeit

Verlassene Nester -

Verlassene Nester
von Patricia Hempel

Bewertet mit 3.5 Sternen

Die jugendliche Pilly lebt wenige Jahre nach der Wende mit ihrem Vater im ehemaligen Grenzgebiet der DDR an der Elbe. In Pilly, ihrer Familie und Umfeld und dem kleinen Ort zeichnet Patricia Hempel wie unter einem Brennglas die schwierige Situation in der Nachwendezeit für viele Menschen nach. Das Betonwerk, als großer Arbeitgeber ist abgewickelt und hinterlässt Arbeitslosigkeit, die auch Martin, Pillys Vater, schwer zu schaffen macht, die lokalen Geschäfte erhalten Konkurrenz von neuen, günstigen Super- und Baumärkten, ehemalige Vertragsarbeiter*innen leben in ungeklärtem Status und ohne feste Bleibe provisorisch in den Gartenkolonien. Die Stimmung ist trostlos, mit der DDR verschwinden für die Menschen auch immer mehr Ankerpunkte in ihrem Leben, alte Regeln werde durch neue ersetzt ebenso wie das Fernseh- und Radioprogramm. Kein Stein bleibt auf dem anderen und um so mehr möchte man sich am Verbliebenen festhalten.

Die Protagonist*innen von Verlassene Nester gehen sehr unterschiedlich damit um, während Martin den Verlust von Frau, Arbeit und der DDR im Alkohol zu ertränken versucht, kann Eli alles Neue nicht schnell genug erwarten, Katharina bleibt in sich gekehrt und zweifelt, ob die Veränderungen alle so sein müssen und gut sind, wie es suggeriert wird. Pilly erlebt mit Bine und Katja ihre eigene Pubertät in dieser historischen Sondersituation, man hat den Eindruck weitgehend unterhalb des Radars der Erwachsenen, die mit sich selbst und ihrem Platz in der neuen, sich verändernden Gesellschaft hadern. Ein zentraler Spannungsbogen der Erzählung ist der Verbleib von Pillys Mutter, der gelungen durch die Handlung trägt und lange viel Raum für Spekulation lässt.

Inhaltlich konnte mich der Roman leider nicht vollständig überzeugen, es werden viele wichtige Themen zum Teil nur angerissen, die mehr Tiefe verdient und benötigt hätten, um sie nur ansatzweise zu durchdringen, zumal ohne vertiefte Vorkenntnisse des historischen Kontexts. Die eigentlich gelungene Coming of Age Geschichte Pillys mit der Entdeckung ihrer Sexualität und sexuellen Orientierung konkurriert hier fast mit den Themen Fremdenfeindlichkeit gegenüber ehemaligen Vertragsarbeiter:innen, Mutterschaft, Republikflucht, der Rolle der Stasi und den schwierigen Umständen und Veränderungen nach der Wende für die Menschen der ehemaligen DDR. 

Die Stimmung und Schilderungen der Lebenswelt habe ich fast durchweg als sehr angespannt und trostlos wahrgenommen, so sehr, dass es mir an einem bestimmten Punkt schwer fiel weiterzulesen. 

Sprachlich finden sich einige gelungene Bilder und viele Metaphern die u.a. im Umgang mit Tieren den Zustand der Gesellschaft spiegeln sollen. Auch das Bild des Nestes durchzieht die Erzählung. Vollständig konnte mich die sprachliche Umsetzung jedoch nicht überzeugen. Nicht alle Bilder waren für mich wirklich eingängig und haben für mich so den Lesefluss eher gestört, als dass sie zur Verbildlichung beigetragen hätten. Auch bleibt der Stil seltsam distanziert, was gewollt sein mag, mir jedoch keine*n der Protagonist*innen wirklich nahe gebracht hat, bis zum Ende sind mir die Menschen und der Ort seltsam fremd geblieben, obwohl ich teilweise sehr ähnliche biografische Erfahrungen mit ihnen teile. Ich befürchte auch, dass eben diese eigenen Erfahrungen mir geholfen haben, dem Roman überhaupt besser folgen zu können, da bestimmte Vokabeln, Eigenheiten und Gebräuche unerklärt und sich auch nicht ohne weiteres aus dem Kontext erschließend, darin eingebettet sind. Das sorgt zwar für Authentizität, behindert jedoch unter Umständen für Außenstehende den Lesefluss und/oder das Verständnis.

Zusammenfassend ist Verlassene Nester aus meiner Sicht ein wichtiges Buch, da es den Blick auf eine zentrale Epoche und das schwierige Schicksal der Menschen darin lenkt. Die inhaltliche und sprachliche Umsetzung konnte mich jedoch nicht vollständig überzeugen, sodass ich abwägend gute 3,5 Sterne vergebe.