Rezension

Ein neuer Erklärungs- und Therapieansatz bei Autismus

Der Junge, der zu viel fühlte - Lorenz Wagner

Der Junge, der zu viel fühlte
von Lorenz Wagner

Bewertet mit 4.5 Sternen

Henry Makram ist einer der führenden Gehirnforscher der Welt. Er steht hinter dem eine Milliarde schweren Human Brain Projekt der ETH Lausanne. Doch dass auch ein Fachmann wie er an die Grenzen seines Wissens kommen kann und hilfslos wie viele Eltern mit dem eigenen Kind von Arzt zu Arzt irrt, musste er erfahren, als sich herausstellte, dass sein Sohn an einer Form von Autismus leidet.

Lorenz Wagner begleitet Henry und Kai durch Kais Kindheit und Jugend. Dass auch für einen Hirnforscher mit den besten Kontakten es alles andere als offensichtlich ist, was mit seinem eigenen Kind los ist, erfährt der Leser durch eine chronologische Erzählung wichtiger Etappen in Kais Kindheit. Der Autor schafft es hier, durch die Augen des Vaters, die teilweise haarsträubenden und beängstigenden Situationen und frustrierenden Arztbesuche mit einer leichten Note zu erzählen. Das lässt die Geschehnisse persönlich wirken, wie typische Familienanekdoten und nicht wie medizinische Befunde und Diagnosen. Das Buch und die Thematik werden so für den unbelasteten Leser, der mit der Krankheit noch keine Erfahrungen gemacht hat, sehr zugänglich gemacht. Ich weiß aber nicht, ob Betroffene das evtl. als trivialisierend empfinden, oder ob sie (was ich ihnen wünsche) ihre eigenen Erfahrungen ebenso auch mit einem Hauch Humor rückblickend betrachten können. 

Selbstverständlich wird Makrams Forschung durch die Krankheit seines Sohnes noch befeuert. Mit seiner zweiten Ehefrau Kamila, die von Anfang an sehr gut mit Kai umzugehen verstand, und der Doktorandin Tania Barkat (inzwischen Assistenzprofessorin an der Uni Basel) entwickelte Makram eine neue Theorie über die Ursachen hinter Autismus: die Intense World Theory und nennt die Krankheit auch Intense World Syndrome. Im Gegensatz zur althergebrachten Schuldmedizin und vor allem der gängigen öffentlichen Meinung über Autismus, die den Erkrankten einen Mangel an Empathie und Gefühlen zuspricht, weisen die Forschungsergebnisse der Makrams darauf hin, dass genau das Gegenteil der Fall ist: Empfindungen sind um ein vielfaches stärker als bei nicht Erkrankten. Licht, Geräusche, Empfinden über die Haut: alles wird extrem (belastend und mit enormem Stress verbunden) wahrgenommen und dazu werden sämtliche Erfahrungen, gerade in den sensiblen ersten Kindheitsjahren, quasi unvergessen abgespeichert, was dazu führt, dass sich (aufgrund negativer Erfahrungen) immer mehr 'Vorsichts-verhalten' entwickelt, weil der Erkrankte erneute negative Erfahrungen vermeiden will. 

Mit ihrer Theorie haben sich die Markams nicht nur Freunde gemacht. Und auch Henry Makrams Arbeitseinstellung ist wohl nicht ganz easy im täglichen Umgang. Deshalb muss sich der Forschung auch immer wieder Kritik stellen und auch das wird im Buch thematisiert. Nichtsdestotrotz spricht die Tatsache, dass die Findings der Makrams bis jetzt mit allen neuen Studien vereinbar sind und es durchaus auch ehemalige Mitbegründer der (momentan noch führenden Erklärungs-) Theory of Mind gibt, denen sie plausibel erscheint, für sich. Und vor allem betroffene Familien und nicht zuletzt Erkankte selbst (z.B. Ari Ne'eman vom autistischen Selbsthilfenetzwerk der USA) fühlen sich endlich verstanden und finden in den Empfehlungen der Makrams, allem voran einer reizarmen Umgebung (wenn möglich gerade in den ersten Kindheitsjahren) wirkungsvolle Tipps. 

'Wer einen Autisten kennt, kennt genau EINEN Autisten' - ist ein Spruch, der deutlich macht, wie vielfältig die Krankheit ausgeprägt sein kann. Und immer wieder erkennen wir doch auch an uns selbst oder anderen 'leichte autistische Züge' - das Meiden großer Menschengruppen, der Drang, Dinge immer an ihrem angespannten Platz stehen zu lassen, Heimweh oder ähnlliches. Die Theorie der Makrams hat in meinen Augen das Potential, sämtliche Ausprägungen der Krankheit zu erklären, von super schwach bis extrem stark.

Dass Lorenz Wagner es schafft, diese extrem theoretischen Forschungsergebnisse so lebendig zu vermitteln, ist seinem persönlichen Ansatz geschuldet, der die Vater-Sohn-Beziehung in den Mittelpunkt stellt und sich dann vor allem auf die Suche des Vaters nach Erklärungen konzentriert. Für jemanden, der selbst aus dem Wissenschaftsbetrieb stammt ist das vielleicht noch ein bisschen nachfühlbarer als für jemanden, dem der Hochschulbetrieb unbekannt ist, vor allem aber ist es als Mutter sehr mitreißend.

Ich werde die Makrams und das Human Brain Project auf jeden Fall weiter verfolgen und glaube, dass die Behandlungsempfehlung 'Zurück zur Einfachheit, raus mit den Kindern in die Natur und weg von übermäßig vielen (technologischen) Reizen, biete ihnen eine verlässliche Umgebung und einen gleichmäßigen Tagesrhytmus' für uns alle das richtige ist, ob wir nun 'intense' empfinden oder nicht.