Rezension

Ein Panorama von Geschichten und Schicksalen

Kapital - John Lanchester

Kapital
von John Lanchester

Bewertet mit 4.5 Sternen

Der Titel und einige Formulierungen in Rezensionen, die der Verlag auf dem Umschlag abgedruckt hat, hatten mich eher abgeschreckt: So stand John Lanchesters Roman »Kapital«, ein Geschenk, einige Jahre im Regal – zu Unrecht, wie ich jetzt festgestellt habe.

Auf der Vorderseite des Umschlags wird Felicitas von Lovenberg (FAZ) zitiert: »Eine gewaltige Erzählung über Geld und Gier, Angst und Ambition, Status und Schulden«, und auf der Rückseite erklärt Christian Buß (Spiegel Online) das »Kapital« zu einem fulminanten »Gesellschaftsroman zur Finanzkrise«. Besser gefällt mir da die Formulierung: ein »breit angelegtes Gesellschaftspanorama Londons« von O. P. Zier (Die Presse). Denn Lanchester entfaltet in seinem – keineswegs »atemlos erzählten« (titel thesen temperamente) – Roman in Ruhe, doch, wie ich finde, weitgehend ohne Längen die Schicksale von Menschen. Die Welt des Bankers Roger Yount – dessen Familie über ihre Verhältnisse lebt und umdenken muss, als er die erwartete Jahresprämie von einer Million Pfund nicht erhält – ist nur ein Erzählstrang des Romans; das Buch besteht aus einer Reihe solcher Erzählstränge, die immer wieder von anderen abgelöst und manchmal bald, manchmal nach längerer Pause wieder aufgegriffen werden; nur im Erzählzusammenhang von Yount, seiner Frau Arabella, seinen beiden Kindern und seinen Kollegen spielt die Finanzkrise am Schluss eine kleine Rolle. Gemeinsam ist den Geschichten, dass ihre Protagonisten in der Pepys Road in London leben – einer Straße, deren Bewohner mehr oder weniger wohlhabend sind –, dort arbeiten oder mit Bewohnern verwandt sind.

Eine »Erzählung über Geld und Gier, Angst und Ambition, Status und Schulden«? Bezogen auf Roger und sein Umfeld: ja. In gewissem gilt dies auch für den Künstler Smitty, dessen Großmutter in der Pepys Road wohnt, und seinen Mitarbeiter Parker French: Status, Ruhm kann man hier als Ziele nennen. Aber bei dem jungen Senegalesen Freddy Kamo, der mit seinem Vater nach London kommt und einen Vertrag bei einem Club der Premier League erhält? Ambition, Status? Vor allem ist Freddy ein Junge, der einfach Fußball spielen will. Die Familie und Brüder des aus Pakistan stammenden Ladeninhabers Ahmed Kamal? Hier steht das Leben der Familie, die Haltung der Brüder, auch zum Islam, im Mittelpunkt. Der polnische Handwerker Zbigniew will Geld verdienen und dann nach Polen ziehen; ob das so kommt, wird sich zeigen. Leben und sein Glück finden will das ungarische Kindermädchen Matya – aber charakteristisch für sie ist eher die Liebe zu einem Kind als »Gier« oder »Ambition«. Und Quentina Mkfesi, die vor dem Regime in Zimbabwe (nicht Nigeria, wie es merkwürdigerweise im Klappentext heißt) floh und als Politesse arbeitet, u. a. in der Pepys Road? Sie will einfach leben. »Jedes Haus in der Pepys Road im Süden Londons hat viel Glück, Liebe und Leid gesehen«, schreibt der Verlag auf dem Buchrücken. Das trifft es gut – und es gilt auch für die anderen Protagonisten, die nicht in der Straße wohnen. Sie wollen etwas Glück oder einfach leben.

Das Buch als »Gesellschaftsroman«, »Gesellschaftspanorama«? Ja, aber nicht primär zur Finanzkrise. Der Autor zeigt Mechanismen und Oberflächlichkeit der Finanzwelt – aber er beleuchtet auch z. B. das Leben von Muslimen als Teil der britischen Gesellschaft oder die Situation von Asylbewerbern und die Zustände in der Abschiebehaft.

In diesem Buch lernt man viele Figuren mit unterschiedlichen Schicksalen kennen, man leidet mit ihnen, versteht sie irgendwie, freut sich auf die Fortsetzung der unterschiedlichen Erzählstränge – und kann sogar die snobistische, aber auch liebenswerte Arabella Yount mögen. Das Buch ist ein schöner Schmöker, in den man sich gut vertiefen kann.

Kommentare

wandagreen kommentierte am 07. August 2017 um 23:14

Ich habe nur den letzten Abschnitt gelesen! Ist nämlich bestimmt ein schönes Buch.

Steve Kaminski kommentierte am 08. August 2017 um 09:02

Ja, das ist es! Auch weil der Titel nicht so recht passt. (Oder "capital" weiter - im Sinne von Vermögen, auch Hauptstadt.)

katzenminze kommentierte am 13. August 2017 um 23:07

Ich glaube auch, dass es eine miese Übersetzung vom englischen Capital ist. Mochte das Buch damals auch echt gerne. Schön, dass es noch den Weg aus deinem Regal gefunden hat! ;)

Steve Kaminski kommentierte am 14. August 2017 um 08:34

Ja, ich hatte das Gefühl, jetzt könnte es mir gefallen - und war zufireden, dass es etwas anderes war, als ich früher erwartet hatte. (Bei diesem "Wir wollen, was ihr habt" hatte ich auch eine raffinierte Aktion irgendwelcher Finanzhaie vermutet, aber die große Bedeutung hatte es ja gar nicht.)