Rezension

Ein Roman mit einer interessanten Thematik und einer schönen Liebesgeschichte

Wenn du dich traust
von Kira Gembri

Inhalt:

Fast wäre Leas Bruder gestorben. Während Lea in der Küche nicht davon ablassen kann, den Schalter des Herdes zu betätigen, schreit dieser in einem anderen Zimmer vor Schmerzen. Es ist der Blinddarm, diagnostizieren die Eltern, die gerade noch rechtzeitig in die Wohnung kommen. Lea ist als Babysitter nicht zu gebrauchen und muss in Behandlung - so lautet die zweite Diagnose.

Während Lea also in einer Klinik lernen soll, ihre Kontrollzwänge zu beherrschen, dealt Jay mit Drogen, um die vererbten Schulden seines Vaters zu tilgen. Dieses Mal läuft es jedoch schief und Jay wird zu Sozialstunden in einer psychiatrischen Klinik verurteilt. Allerdings ist sein Gläubiger wütend und die Rückführung der Schulden duldet keinen Aufschub mehr. Da kommt es Jay sehr Recht, dass der Klinikleiter gerade das Geld zählt. Mit einem Trick gelangt er an die Scheine, doch plötzlich steht da ein Mädchen in der Tür und droht ihn auffliegen zu lassen.

Doch Lea möchte Jay gar nicht verraten. Sie hat ganz andere Pläne. Sie möchte aus der Klinik ausbrechen, aber sie kann nicht zu ihren Eltern, darum bietet sie Jay einen Deal an: Jay soll ihr helfen aus der Klinik zu fliehen und sie bei sich daheim unterbringen.
Beide ahnen noch nicht, was genau sie erwartet, doch eins ist gewiss: Lea und Jay könnten unterschiedlicher nicht sein. Eine liebt die Ordnung und braucht Kontrolle, der andere lebt zwar einerseits im Augenblick, andererseits aber auch im Chaos.
 

Wichtigste Charaktere:

Lea liebt die Ordnung, sie braucht Kontrolle über ihr Leben. Wenn sie die Kontrolle verliert, beginnt sie zu zählen. Sie zählt die Bücher im Regal, mit der Hoffnung, dass eine grade Anzahl darin steht, sie zählt die Knöpfe ihrer Bluse und kontrolliert den Herd, indem sie immer wieder den Schalter dreht. Beim Autofahren betet sie ohne Unterlass, um zu verhindern, dass ihr etwas Schlimmes widerfährt.

Jay ist ein Drogendealer, nach dem Auszug aus der betreuten WG ist er mit seinen Kumpels Flocke und Alex in eine eigene Wohnung gezogen. Jay sagt, was er denkt und nimmt keine Rücksicht darauf, ob er dabei andere Menschen verletzt. Gerne schleppt er das ein oder andere Mädchen nach einer Party ab. Eine feste Freundin ist ihm ein Graus.

Schreibstil:

Kira Gembri erzählt ihren Roman jeweils aus dem Gesichtskreis ihrer beiden Protagonisten. Der Leser verfolgt einerseits in Kapiteln das Leben von Jay und andererseits begleitet er Lea durch ihre Gedanken.

Gerade Jay sorgt dafür, dass ein dreckiger Ton den Roman durchzieht. Er ist cool und - im patriarchalischen Sinn - männlich, was es zu kommunizieren gilt. Daher spricht er abwertend über Frauen und Menschen wie Lea.

Lea, die mit ihren Ticks eigentlich ein ideales Opfer für Jay darstellt, weiß sich zu wehren und schafft im Zusammenspiel mit Jay so Dialoge, die einfach goldig sind. Dennoch kann sie nicht aus ihrer Haut. Die Angst, die Kontrolle über die Situation zu verlieren, beherrscht sie durch und durch. In schwierigen Situationen verliert sie sich im Zählen.

Kira Gembri greift das Thema Kontrollzwang nicht nur oberflächlich auf. Sie weckt Verständnis beim Leser. Sie zeigt, dass der Betroffene selbst weiß, dass sein Handeln sein Leben einschränkt. Auch wenn Lea ahnt und, spätestens als Jay es ihr direkt ins Gesicht sagt, auch weiß, dass die von ihr befürchtete Situation mit aller Wahrscheinlichkeit nicht eintreffen wird, kann sie ihre Rituale nicht einstellen. Hier zeigt sich, wie viel Kraft das Unbewusste hat und wie es uns beherrscht. Der Mensch kann zwar tun, was er will, aber er kann nicht wollen, was er will.

Jay möchte Lea nicht helfen. Er möchte sie loswerden. Die Worte, die er ihr an den Kopf wirft, sind oft verletzend. Es ist nicht einfach zwei so grundsätzlich unterschiedliche Charaktere zueinander zu führen und dennoch schafft es die Autorin in glaubwürdiger Weise.
Lea schafft es mit Jay ihren Kontrollzwang zu durchbrechen. Er lässt sie gewähren, bringt sie aber in ein derartig chaotisches Leben, dass ihre Zwänge einfach hintanstehen müssen.

Wenn die Polizei im Gang steht, dann hilft vielleicht ein Kuss, um Lea von den Schaltern, die sie beherrschen, abzulenken? Wenn Jay sturzbetrunken umzufallen droht und eine Alkoholvergiftung zu befürchten steht, dann kann Lea nicht erst über das Zählen nachdenken; sie muss ihn festhalten, bevor er torkelnd auf den Boden fällt.
 

Fazit:

Über den rauen Umgangston muss der Leser hinwegschauen, dann erhält er eine Geschichte mit einem Thema, welches die Autorin gut zu beleuchten weiß: Es gibt Menschen, die versuchen die Kontrolle zu bewahren, indem sie Dinge zählen. Was sie bewegt und wie schwer es ist, dieses Schema zu durchbrechen, wie sehr die Betroffenen selbst daran leiden, dass erfährt der Leser in diesem Roman.
Mit den sehr unterschiedlichen und charakterlich sehr ausgeprägten Jugendlichen Lea und Jay schafft Kira Gembri Spannung, humorvolle Dialoge, sie verletzt und versöhnt. 

Wenn du dich traust ist ein Roman, der Gefühle weckt, der ein sehr interessantes Thema durchleuchtet und einfach nur Spaß macht. Absolute Leseempfehlung!
 

Buchzitate:

Habe ich vorhin schon gedacht, die Situation wäre riskant? Armes, naives Vor-fünf-Minuten-Ich.

Mechanisch zähle ich die Tropfen, die in Jays Wimpern hängen.

Die verflixte Kamera! Warum, warum nur sind meine Zwänge so nachtragend?

„Was brauchst du?“, frage ich knapp. „Hey, schau mich an. Was muss passieren, damit du hier rauskommst?“