Rezension

Ein Roman über das Lieben und Geliebtwerden

Die Nacht des Kranichs - Patrick Ness

Die Nacht des Kranichs
von Patrick Ness

Ein Roman über das Lieben und Geliebtwerden

Es ist mitten in der Nacht, als George ein jämmerliches Wehklagen vernimmt, das ihn in den Garten seines Hauses führt. Dort findet er in der gespenstischen Dunkelheit einen Kranich, der ihn aufgrund seiner fesselnden Schönheit und stattlichen Größe zugleich fasziniert und verwundert. Doch ihm bleibt nicht viel Zeit zum Staunen, denn im Flügel des Vogels steckt ein langer Pfeil und das austretende Blut macht deutlich, dass der Kranich dringend Hilfe benötigt. Nachdem George das Tier von dem quälenden Fremdkörper befreit hat, schlägt der Vogel noch einige Male mit den Flügeln und verschwindet plötzlich in der schützenden Dunkelheit der Nacht. Danach ist die beißende Kälte der einzige Beweis, dass George nicht träumt und die ungewöhnliche Begegnung tatsächlich stattgefunden hat.

Am nächsten Tag scheint die wunderliche Nacht schon fast vergessen, als eine elegant gekleidete Frau namens Kumiko Georges Copyshop betritt. Es wird schnell klar, dass die geheimnisvolle Fremde und George eine ganz besondere Beziehung verbindet. Obwohl Kumiko das Geheimnis um ihre Herkunft wie einen Schatz hütet, verliebt sich George Hals über Kopf in sie. Und während George sich immer mehr und schmerzlicher nach ihrer Liebe verzehrt, scheint Kumiko trotz ihrer Zuneigung all die Zeit nicht greifbar für ihn. Das ändert sich erst, als sie ihm eine herzzerreißende Geschichte über das Lieben und Geliebtwerden erzählt, die Georges Leben verändert …

Eine Geschichte ist am Ende niemals beendet. Es gibt immer ein Danach. Und selbst wenn die Geschichte selbst behauptet, es gäbe nur diese eine Version, sind in ihr andere Versionen angelegt. Nein, eine Geschichte ist keine Erklärung, sondern ein Netz, durch das die Wahrheit fließt. In diesem Netz verbleibt einiges von der Wahrheit, aber nie alles, nur gerade so viel, dass wir mit dem Wundersamen leben können, ohne dass es uns umbringt. – Seite 154 –

Ein modernes Märchen für aufgeschlossene Leser

Beim Lesen des Romans durfte ich unglaublich viele Gefühlsregungen erleben. Von Skepsis über Unglauben, Trauer, Wut, Mitgefühl und Rührung war alles dabei. Die Nacht des Kranichs ist ähnlich wie Kumiko einfach nicht greifbar. Daher braucht es beim Lesen auch besonders viel Geduld und eine gehörige Portion Offenheit, denn Patrick Ness macht es seinen Lesern mit Sicherheit zunächst nicht leicht, diese komplexe Geschichte zu verstehen. Und doch weiß er nicht nur dank des bezaubernden Plots zu unterhalten, denn der Roman zeichnet sich immer wieder durch starke Gegensätze und krasse Stilbrüche aus. Sobald man sich in der stellenweise besonders poetischen Sprache verliert, holt Patrick Ness seine Leser durch schon fast ordinäre Ausdrücke, Gedankengänge oder Gespräche wieder in die Realität zurück. Obwohl ich mich beim Lesen erst an den Stil gewöhnen musste, finde ich diese Methode besonders gelungen, um die Geschichte nicht zu einem kitschigen Märchen abdriften zu lassen, denn somit hätte Kumikos weises Märchen innerhalb der Erzählung seine besondere Wirkung verloren.

Außerdem verleiht Patrick Ness seinen Charakteren auf diese Weise bedeutend mehr Menschlichkeit und Profil. Das Zusammenspiel der Charaktere ist in diesem Roman ohnehin ganz besonders außergewöhnlich. Die friedliche und besonnene Kumiko ist beispielsweise der Dreh- und Angelpunkt der Geschichte und doch ist sie für den Leser ebenso geheimnisvoll wie für George und erscheint immer wieder nur als Randfigur. Viel bedeutender sind George und seine erwachsene Tochter Amanda, die beide recht unzufrieden mit ihrer eigenen Persönlichkeit sind. Doch während George trotzdem recht ruhig und gutmütig auftritt, wirkt Amanda ständig aggressiv und getrieben. Und hier kommt Kumiko wieder ins Spiel, denn ihre Gegenwart hat eine derart starke Wirkung auf die beiden, dass die Leser dadurch sämtliche Facetten der menschlichen Psyche beobachten können.

Fazit

Dieser Roman ist genau das Richtige für all diejenigen, die sich mal wieder nach anspruchsvoller Literatur und einem modernen Märchen sehnen. Beim Lesen stellt sich häufig das Gefühl ein, dass Patrick Ness nicht erzählt, sondern beschreibt. Dabei stehen in diesem Roman wieder einmal nicht die einzelnen Handlungen, sondern die Besonderheiten der menschlichen Charaktere sowie die Gesamtkomposition im Vordergrund.