Rezension

Ein Roman wie eine Raubtierpranke - zart und gewaltig.

Löwen wecken - Ayelet Gundar-Goshen

Löwen wecken
von Ayelet Gundar-Goshen

Bewertet mit 5 Sternen

Löwenspuren.

„ …. er hört die Tür des Jeeps aufgehen und weiß, er selbst ist derjenige, der sie öffnet....ist derjenige, der nun aussteigt. Seine Füße treten auf den groben Wüstensand, er hört ein Knirschen bei jedem Schritt, und dieser Laut beweist ihm, dass er tatsächlich geht. Und irgendwo am Ende des nächsten Schrittes erwartet ihn der Mann, den er umgefahren hat“.

Die Füße gehören Etan Grien, der gerade nach Feierabend auf einer Wüstenpiste mit voll aufgedrehtem Jeep-Motor einen Mann überfahren hat – tödlich überfahren hat er ihn - den Eritreer Assam, dessen brechende Augen nur noch den Himmel erfassen können, weil Etan nach Bruchteilen verzögerter Zeit Fahrerflucht begeht und den Sterbenden allein zurücklässt.

Alles hätte er aufs Spiel gesetzt, wenn er geblieben wäre. Seine Anstellung als Neurochirurg im Krankenhaus von Beer Scheva, in das man ihn von Tel Aviv aus zwangsversetzt hatte, weil sein Rechtsempfinden sich gegen die Korruption seines Vorgesetzten aufgelehnt hatte, seine glückliche Ehe mit Liat, das Leben mit seinen beiden Söhnen Itamar und Jahali – alles, was seine Welt ausmachte, wäre in Frage gestellt worden. Doch als er davonfährt, setzt er sich selbst aufs Spiel, verrät seine Überzeugung und macht sich erpressbar.

Sirkit, die Ehefrau des getöteten Eritreers, war unbemerkt Zeugin des Unfalls und verlangt Etans Einsatz bei der medizinischen Behandlung von illegalen Einwanderern, die Nacht für Nacht in ein notdürftig hergerichtetes Camp strömen und Hilfe brauchen. Was ihm bevorsteht, wenn er sich weigert, bedarf nicht vieler Worte.

Und so beginnt sein nächtliches Parallel-Leben, das auch sein tägliches Dasein in einen Sog von Lügen, Diebstahl und schamhaftem Begehren zieht.

Ausgerechnet seine Frau Liat, die ihrem Job bei der Polizei nachgeht, ist mit der Aufklärung des nächtlichen Unfalls betraut worden und ahnt nicht, dass dieser die schlimmsten Albträume ihres Mannes verursacht und auf schicksalhafte Weise ihr gesamtes Leben verändern wird.

Ayelet Gunnar-Goshen hat einen bemerkenswerten Roman geschrieben, den man nicht ohne Weiteres mit anderen Schriftwerken vergleichen kann.

Die Themen sind aktuell und heikel. Die politische und gesellschaftliche Situation der Juden und Araber, der afrikanischen Einwanderer, der Illegalen ohne Rechte und Papiere, der ewig Gehetzten und Geduckten kommt auf bedrückende Weise sehr nah' an den Leser heran. In eindringlich-nachhaltiger Form versteht es die Autorin, die Dinge sich entwickeln zu lassen, Eines bringt das Andere mit sich, auf Feigheit folgt verlogenes Verstecken, Schweigen tötet Vertrauen, und der unkontrollierte Strom der Gedanken wird zu einer Mischung aus Ekel, Angst und Begehren. Facettenreich und wortgewandt ist der Roman sehr anspruchsvoll, wenn es um die Aufmerksamkeit geht, die er vom Leser erwartet. Man empfindet die detaillierten Schilderungen als farbiges, psychologisch fein nuanciertes Gemälde, erlebt aber auch Momente verstörender Wortgewalt und spürt dadurch wieder erschreckende Realität. Ich möchte sagen, es ist eine literarische Gratwanderung, die uns alle Möglichkeiten des Erlebens bietet.

Der Titel „Löwen wecken“ bietet der Phantasie des Lesers ein weites Feld....... werden nicht immer Löwen geweckt, wenn dunkle Seiten des Ichs ans Licht kommen, wenn plötzlich herrschen will, was vorher geknechtet war, wenn einer Unwahrheit ein Kometenschweif der Lügen folgt und ein Unrecht den Untergang Unschuldiger verschuldet?

Ein grandioses, eindrucksvolles Leseerlebnis, dessen "Löwenspuren" noch lange im Gedächtnis bleiben.