Rezension

Ein satirischer, innovativer Roman mit Tiefgang

Die Hungrigen und die Satten - Timur Vermes

Die Hungrigen und die Satten
von Timur Vermes

Bewertet mit 4.5 Sternen

Engel im Elend trifft den Typ mit der Idee

„Aber hier gibt es nichts. Hier gab es auch vorher nichts, und deshalb ist hier alles gleich, überall nur eine dicke Zeltschicht auf dem staubigen, verdorrten, versengten Boden. Der Blick geht über die Zeltdächer in die endlose Weite, ein weißgekräuseltes Planenmeer, zwischen dessen Wellen dunkle Menschen treiben, Hunderte und Hunderte …“

 

Inhalt

 

Die omnipräsente Berichterstatterin Nadeche Hackenbusch startet mit einer Live-Story der Extraklasse im deutschen Fernsehen durch. Was anfangs nur eine humanitäre Hilfsaktion über einen begrenzten Zeitraum sein sollte, bekommt durch den motivierten Flüchtling Lionel ein ganz neues, medientaugliches Format. Nadesche und Lionel sind nicht nur ein frisch verliebtes Paar, nein, sie sind wahre Mediengurus und begeistern und erschrecken die Bevölkerung mit ihrer gewagten Aktion gleichermaßen. Mit 150.000 Menschen starten sie einen Feldzug von Afrika nach Deutschland zu Fuß, marschieren mit ihrem Tross durch zahlreiche Länder und bleiben einfach nicht stehen. Was anfangs noch ein imposanter Medienrummel zu sein scheint, verkommt nach und nach zur realistischen Bedrohung. Denn in der Türkei angekommen, sind es mittlerweile 300.000 Flüchtlinge geworden und es sieht nicht so aus, als könnte irgendetwas diese Menschenmassen aufhalten. Der deutsche Innenminister braucht eine unschlagbare Waffe, um seine Landesgrenzen zu schützen, doch wer möchte schon die Verantwortung für eine tödliche Massenexekution tragen?

 

Meinung

 

Der deutsche Autor Timur Vermes, der bereits mit seinem Debütroman „Er ist wieder da“ für Furore sorgte, widmet sich in seinem aktuellen Roman einer ebenso politischen, wie aktuellen Debatte um das Problem der immer zahlreicher werdenden Flüchtlingsströme, die mit aller Gewalt nach Europa drängen und jedwede Belastung auf sich nehmen, um ein Leben in Frieden zu führen. Dabei ist dieses Werk vor allem sehr radikal, vielmals überspitzt und doch sehr beklemmend und realistisch umgesetzt. Eine innovative, humorvolle Gesellschaftskritik, bei der ganz klar wird, welche Machtkämpfe zwischen den Gewinnern und Verlierern stattfinden, auch wenn alles in geordneten Bahnen abläuft. Denn nicht nur die Aussichtslosigkeit der Bevölkerung in den Ländern ihrer Heimat wird sichtbar, sondern auch ihre Unerwünschtheit in der Fremde.

 

Dieses Buch hat mich wirklich begeistert, vor allem weil es so humorvoll und satirisch daherkommt und sowohl die Politik, als auch die Aasgeier der Medienbranche durch den Kakao zieht, ihre Schwächen offenlegt und sie zu den Geächteten deklariert und zum anderen, weil die Idee eines Flüchtlingszuges mit der entsprechenden Logistik und den menschlichen Anstrengungen ausgezeichnet und sehr einprägsam dargestellt wird. Man kann laut lachen, über Nadesches neues Image als Engel im Elend oder sich fasziniert dem Flüchtling Lionel zuwenden, der eigentlich nur allein nach Deutschland wollte und schließlich zum Helden einer Menschenmenge avanciert. Und was mir mindestens genauso gut gefallen hat, ist der Wechsel von einem unterhaltsamen, politischem Roman zu einem bedrückenden, fast schon beängstigendem Szenario, dem eine einzige Entscheidung keinen Einhalt mehr gebieten kann.

 

 Auch die Protagonisten, die hier auf der Bühne stehen, bekommen ein klassisches Profil, so dass man sie bildlich vor Augen hat. Egal ob es die etwas dümmliche, gutaussehende Moderatorin ist, oder der geldgeile, skrupellose Medienboss – jeder steht nicht nur stellvertretend für eine ganze Meute an Personal, sondern gleichermaßen für sein öffentliches Image. Man scheint sie irgendwoher zu kennen, selbst wenn sie andere Namen und Gesichter haben, man fühlt sich als Leser gleichermaßen übergeordnet und eingegliedert.

 

Dieser Roman bleibt in Erinnerung, nicht nur weil er so anders ist als man erwartet, sondern vor allem, weil sich die Bilder, die er entwirft ins Gedächtnis fressen. Eine Verfilmung stelle ich mir hier auch sehr amüsant und attraktiv vor, sie drängt sich regelrecht auf, stehen doch die Ereignisse, die zwischenmenschlichen Agitationen und die übergeordneten Entscheidungen immer im Mittelpunkt. Beim Lesen braucht man Ruhe und auch Konzentration, weil sich der Lesefluss nicht ganz so flüssig einstellt, wie erhofft. Doch das ist kein nennenswerter Kritikpunkt, gleicht doch die Dichte der Erzählung diesen kleinen Mangel wieder aus.

 

Fazit

 

Ich vergebe 4,5 Lesesterne (aufgerundet 5) für diesen innovativen Roman, der die Deutschen und ihr derzeit aktuelles Problem der anrückenden Flüchtlingsmassen gekonnt in Szene setzt. Einprägsam und unterhaltsam, realistisch und bedrückend, aktiv und hilflos – Politiker, Journalisten, und Menschen in Not, die agieren um glaubwürdig zu bleiben, die spekulieren, um Quote zu machen und die nicht anhalten, um zu überleben. Empfehlenswert für alle Leser, die den etwas anderen Blick auf die politische Gesamtsituation werfen möchten und sich auch über das Buch hinaus mit der aufgeworfenen Debatte auseinandersetzen möchten. Den Erstlingsroman des Autors werde ich sicherlich noch lesen, nachdem ich mich hier von seiner Erzählweise überzeugen konnte.