Rezension

Ein schlaues Buch

Milchmann - Anna Burns

Milchmann
von Anna Burns

Bewertet mit 4 Sternen

Ich kann das Buch nur als schlau, durchdacht und tiefgründig bezeichnen. Es verlangt dem Leser einiges ab, gibt aber auch viel zurück.

Das Buch ist toll, aber anspruchsvoll. Keine Geschichte, die man einfach herunterlesen kann und an einem vorbeizieht. Vielmehr ist das Buch eine Reise durch Geschichte, Gesellschaft und Persönlichkeit. So hat sich die Erzählung für mich auch in verschiedene Reiseabschnitte gegliedert:

Es begann mit einer Findungsphase. Ich brauchte die ersten beiden Kapitel, um mich innerhalb der Geschichte und ihrem Setting zu Recht zu finden. Das Buch macht es einem nämlich nicht leicht und fordert von seinen Lesern viel Mitdenken.  So handelt die Geschichte irgendwann in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in einer Stadt, die politisch und religiös zweigeteilt ist – sowohl durch See, als auch durch Hauptstraße. Die Namen der Bürger sind überwiegend englisch und die Bürger selbst sehr konservativ, engstirnig und in Konventionen gefangen. Schon um das kleinste Abbild einer Flagge, kann ein riesiger Streit entstehen. Der Leser muss all diese Hinweise nehmen und sich selbst zusammenreimen, wo das Buch handelt und welcher Konflikt dort herrscht. Ein zweiter Aspekt, der es mir schwer gemacht hat in die Geschichte hineinzukommen, war das Fehlen jeglicher Namen. Das ist sehr ungewöhnlich und hat mich erst einmal vor dem Kopf gestoßen. Natürlich ist es Absicht: Namen sind Teil der Persönlichkeit, unterscheiden uns von anderen – dabei wird in der Gesellschaft im Buch jeder geächtete, der nicht der Norm und dem üblichen Einheitsbrei entspricht. Das ist fast schon so etwas wie die Kernbotschaft des Buches und wird von der Autorin daher deutlich hervorgehoben – also: keine Namen. Erstaunlicherweise habe ich mich jedoch sehr schnell daran gewöhnt und empfinde es mittlerweile auch nicht mehr als Lesehemmnis. Aller guter Dinge sind drei – deswegen hatte ich zu Beginn des Buches noch mit einer dritten Sache zu kämpfen: dem Schreibstil. Die Autorin schreibt sehr lange, verwinkelte Sätze, mit sehr wenig wörtlicher Rede. Auch Absätze scheint die Autorin nicht sehr zu schätzen. Dementsprechend sieht man sich auf jeder Seite einer flächigen Mauer an Wörtern gegenüber, die nicht immer leicht zu durchdringen ist, ab und zu abschreckend wirkt und – wie bereits zuvor erwähnt – den Leser zum Mitdenken zwingt.

Nachdem ich mich in der Geschichte zu Recht gefunden habe, kann ich im nächsten Schritt das Buch genießen. Vor allem die Sprache ist so gewitzt, mit so vielen Fassetten und Ideen, dass es Spaß macht sie zu erkunden – und erkunden muss man das Buch wirklich: Der Schreibstil ist verschachtelt. Öffnet man diesen Schachteln entdeckt man darin allerhand: Humor, historische Fakten, Vorgeschichte, Gedanken und Metaphern.

Dabei – oder gerade deswegen – hat die Erzählung Tiefe; so steht doppelt so viel zwischen den Zeilen, wie in den Zeilen. Vielleicht verliert sie sich hin und wieder zu sehr darin – lässt die Handlung für einige Seiten erstarren, weil der Gedankengang in diesem einen Moment von einem Punkt zum nächsten  führt und sich fortsetzt, bis der eigentliche Ausgangspunkt schon wieder vergessen ist, bis die Autorin den Leser mit einen Ruck dorthin zurückreißt. Das macht die Handlung langsam und träge. Nichtsdestotrotz kommt sie voran, wenn auch schleichend.

Erst nach über der Hälfte des Buches – im einem nächsten Reiseabschnitt der Geschichte –  wurde mir bewusst, dass ich mich bisher vielmehr mit dem Setting, der Gesellschaft und den Konflikten in der Geschichte auseinander gesetzt habe, als mit der Protagonistin. Sie war zwar immer präsent, aber eher als ein Sprachrohr, nicht so sehr als selbstständige, vielschichtige Persönlichkeit. So wie die Autorin jedes Wort bewusst wählt, ist auch dieser Eindruck sicherlich von ihr gewollt. Aber ab dem vierten Kapitel rückt die Protagonistin dann zunehmend in den Mittelpunkt des Buches. Endlich lernen die Leser sie und ihre Innenleben besser kennen – immerhin, jedoch recht spät.

Dadurch kommt die Handlung leider noch langsamer voran, bis zum letzten Teil der Geschichte. Da passiert mehr als auf den vorherigen Seiten – das Buch neigt sich einem Ende entgegen.

Am Schluss kann ich das Buch nur als schlau, durchdacht und tiefgründig bezeichnen. Es  verlangt dem Leser einiges ab, gibt aber auch viel zurück. Letztendlich empfehle ich die Lektüre jedem, der nicht davor zurückschreckt von einem Buch ernsthaft gefordert zu werden.