Rezension

Ein sehr berührendes, großartiges Buch

Bordeaux - Paul Torday

Bordeaux
von Paul Torday

Bewertet mit 5 Sternen

Paul Tordays Bordeaux: Ein Roman in vier Jahrgängen zählt für mich zu den besten Büchern, die ich je gelesen habe. Während der deutsche Titel den Leser zunächst mutmaßen lässt, dass es sich um eine originelle Geschichte zum Thema Wein handeln könnte, kann man beim englischen Originaltitel The Irresistable Inheritance of Wilberforce in keiner Weise darauf schließen.

Psychogramm eines Abhängigen

Der tiefgründige Roman, der so still und bedachtsam erzählt wird, berührt und bedrückt auf schleichende Weise, denn er entfaltet in schonungsloser Offenheit das Psychogramm eines Suchtkranken, der nicht nur sich, sondern auch andere ihm nahestehende Menschen mit in den Abgrund zieht. Torday erzählt die tragische Geschichte der Hauptfigur chronologisch rückwärts, von 2006 bis 2002, eine außergewöhnliche literarische Variante, die zwar am Anfang für den Leser etwas ungewohnt ist, aber den Spannungsbogen keinesfalls verringert.

Verfall eines Software-Genies

Der Protagonist von Bordeaux ist Frankie (Francis) Wilberforce, 37, einst ein Mathematik-Genie und erfolgreicher Softwareentwickler, jetzt ein körperliches Wrack, schwer gezeichnet von seiner Alkoholsucht. Die Geschichte, die in der Ich-Form aus der Perspektive der Hauptfigur erzählt wird, beginnt 2006, als Wilberforce auf dem Tiefpunkt seines Lebens angekommen ist. Völlig heruntergekommen vegetiert er in seiner teuren Wohnung in der Half Moon Street im exklusiven Londoner Stadtteil Mayfair vor sich hin, getrieben von seinen Halluzinationen und Wahnvorstellungen. Der einzige ihm gebliebene Freund aus Universitätstagen, der Arzt Colin Holman, erklärt ihm ohne Umschweife, dass er nur noch wenige Monate zu leben hat, wenn er nicht mit dem Trinken aufhört. Doch Wilberforce ist uneinsichtig und rasend wütend darüber, dass man ihn als Alkoholiker bezeichnet. In seiner Welt ist Wein kein Alkohol und er somit auch kein Alkoholiker, sondern ein Weinliebhaber, der am Tag 4 - 5 Flaschen - am liebsten Bordeaux - kostet und genießt. 

Eine neue Welt: Francis Black und Londons Upper Class Söhne

Seine Liebe zum Wein entdeckt Wilberforce, der kontaktarme Workaholic, als er den kultivierten Francis Black, Weinsammler mit eigenem Weinshop und exklusivem Weinkeller, und dessen Freunde aus Londons High Society kennenlernt. Francis bringt Wilberforce alles bei, was er über Wein weiß - natürlich muss dieser ständig kosten, obwohl er Alkohol immer gemieden hat - und wird zu einem Freund, den Wilberforce nie hatte. Francis' oberflächliche Upper Class Bekannte eröffnen Wilberforce darüber hinaus eine völlig neue Welt, in der Arbeit keinen Platz hat, sondern nur das Vergnügen. Er fühlt sich frei und unbeschwert, wird zu Parties eingeladen und weiß zum ersten Mal in seinem Leben, was er mit seiner Freizeit anfangen soll.

Unaufhaltsamer Absturz

Er verliebt sich in Catherine, die zukünftige Frau eines der reichen Upper Class Söhne, und beschwört damit große Probleme mit seinen snobistischen Freunden herauf, die ihn hinter seinem Rücken als Mr. Nobody bezeichnen, wie er zu seiner maßlosen Enttäuschung mit anhören muss. Er beschließt, seine Firma zu verkaufen, um endlich frei leben zu können und um den letzten Wunsch des todkranken Francis zu erfüllen, nämlich das Grundstück inklusive Weinkeller und Weinshop zu erwerben. Doch dies ist der Anfang vom Ende. Wilberforce kann zwar Catherine für sich gewinnen, doch die Beziehung leidet mehr und mehr unter seiner alles dominierenden Trunksucht, die er als kultivierte Weinliebe abtut. Schließlich kommt es zu einer folgenschweren Katastrophe, die sein Leben radikal verändert, ihn aufrüttelt und sogar veranlasst, eine Therapie zu machen. Doch er hat sein Problem noch immer nicht erkannt und hält an seinem Lügenkonstrukt und zerstörerischen Selbstbetrug fest, bis nichts mehr von ihm übrig ist...

Zerstörerische Passion

Paul Torday entführt uns Leser in die Gedankenwelt eines Alkoholikers. Das ist schon eine gewaltige Herausforderung, denn wir geraten in einen Wirbelsturm von wirren Geschichten, Lügen, Erinnerungsfragmenten, aber auch von immenser Traurigkeit, Sinnleere und Einsamkeit, die nur mit Wein betäubt werden kann. Dank Tordays großartiger Erzählkunst gelingt es uns jedoch, dieses Wirrwarr zu entzerren und uns selbst ein Bild dieses verzweifelten, aber unbelehrbaren Menschen zu machen, dessen Untergang sich nicht aufhalten lässt. Doch Torday urteilt nicht - er mahnt auf seine eigene, leise Weise, in dem er versucht, uns einen Menschen näher zu bringen, der sehenden Auges seinem Verderben entgegengeht. Dies ist dem Autor meisterhaft gelungen, denn man mag Wilberforce verachten, aber es ist unmöglich, von seinem selbst gewählten Schicksal nicht berührt zu sein.