Rezension

Ein Spiel zwischen Wahrheit und Fiktion

Nach einer wahren Geschichte - Delphine De Vigan

Nach einer wahren Geschichte
von Delphine de Vigan

Bewertet mit 4 Sternen

Faszination, die in Bedrohung umschlägt

„Noch heute fällt es mir schwer zu erklären, wie sich unsere Beziehung so schnell entwickeln und wie L. binnen weniger Monate einen solchen Platz in meinem Leben einnehmen konnte. L. übte eine echte Faszination aus. L. erstaunte mich, amüsierte mich, machte mich neugierig. Schüchterte mich ein.“

Inhalt

Delphine lernt auf einer Party ganz zufällig eine gleichaltrige Frau kennen, die als Ghostwriterin arbeitet und im gleichen Alter wie sie selbst ist. Doch L. (der Name wird nur so verwendet) übt eine nie dagewesene Faszination auf Delphine aus, nicht nur, dass sie sehr geschickt und selbstsicher auftritt, nein sie scheint einen siebten Sinn zu haben und ganz genau zu erkennen, was Delphine braucht. L. ist immer da, sie nimmt sich alle Zeit der Welt für die neue Freundin, sie hat kein eigenes beanspruchendes Privatleben, vielmehr involviert sie sich in das der Autorin selbst. 

Allerdings bleibt sie bewusst im Schatten, scheut jeglichen Kontakt mit Delphines Familie und anderen Freunden und isoliert die bereits erfolgreiche Autorin immer mehr. L. redet Delphine ununterbrochen ins Gewissen, versucht ihr neues Buch zu manipulieren oder die möglichen Themen, die Delphine vorschweben zu negieren. Ihre alles regelnde, zupackende Art, treibt Delphine immer weiter hinein in eine Depression, denn bald schon kann sie selbst gar nichts mehr zu Papier bringen, sie kann nicht mehr schreiben und fällt in ein tiefes Loch. L. unterstützt Delphine weiterhin, nimmt deren Termine an ihrer statt wahr und vertröstet diverse Auftraggeber. Zu spät bemerkt Delphine, welches Spiel die Freundin treibt und welchen Zweck sie tatsächlich verfolgt …

Meinung

Die französische Bestsellerautorin Delphine de Vigan steht im Jahr 2020 ganz oben auf meiner Leseliste, ihre Bücher sind thematisch absolut mein Ding und von ihrem schriftstellerischen Können habe ich mich bereits mehrfach überzeugt. Dieser Roman, der nunmehr eine ungesunde Frauenfreundschaft aus der Innenperspektive heraus beleuchtet, deckt gerade auf der psychologischen Ebene wieder zahlreiche wichtige Punkte ab, die mich abermals fasziniert haben und stellenweise doch Widersprüche erzeugen. 

Die Geschichte selbst bleibt lange unbestimmt, sie baut hintergründig diverse Möglichkeiten des Handlungsverlaufs auf und treibt das Spiel zwischen Fiktion und Wahrheit auf die Spitze. Und obwohl der finale Höhepunkt auf den letzten Seiten erreicht wird, gelingt es der Autorin, vor allem in den ersten zwei Dritteln des Buches eine eigentümlich, beängstigende Situation aufzubauen, die mir allerdings mehr auf der emotionalen Ebene als tatsächlich über den Verstand greifbar schien.

Ein außerordentliches Phänomen, welches bisher jedes Buch von Delphine de Vigan bei mir hervorrufen konnte, ist ihre Begabung, die Menschen emotional sichtbar und authentisch wirken zu lassen. Egal ob es um den Verlust durch das Sterben, die Auswüchse einer Essstörung oder das Hineinsteigern in eine Depression geht – die handelnden Personen sind mir immer wahnsinnig nah und dementsprechend hoch bewerte ich die Texte, einfach weil ich über die Gefühlsebene viel besser ansprechbar bin, als rein über die sachlichen Informationen.

 Dennoch empfand ich gerade dieses Buch hier irgendwie unrealistisch, was durchaus der Zweck sein könnte, denn Delphine fragt sich unaufhörlich, ob ihre Verdächtigungen gegenüber L. tatsächlich die Wahrheit sein könnten oder eben nicht. Und während sie wieder absolut auf den Punkt genau die Verzweiflung, das Zögern und die depressive Verstimmung der Protagonistin einfängt, erschließt sich mir dennoch nicht der Kern dieser Beziehung.

Es gibt hier ausgesprochen viele Stellen, die ich eigentlich überhaupt nicht nachvollziehen kann, besonders die blassen Randfiguren, von denen man meinen könnte, sie hätten eigentlich eine Bedeutung für Delphine, verschwinden immer wieder im Nichts. Wäre es tatsächlich so leicht möglich, das gewohnte Leben einer Person auszuhebeln, nur weil man im Gegenüber immer mehr Zweifel sät und dennoch Präsenz zeigt? Die angeblichen Bezugspersonen sind hier doch mehr Erinnerung als Gegenwart. Und wird man nicht viel eher stutzig, wenn der andere niemals aus der Deckung hervorkommt? Lässt man jemand Fremden so ohne weiteres ins eigene Leben hinein, und vor allem so nah? Mein größtes Problem mit diesem Text, war mein Unverständnis gegenüber dem Stellenwert, den Delphine ihrer Bekannten L. einräumt. Verstandesmäßig fehlt mir der Zugang und mit den Gefühlen innerhalb einer depressiven Lebensphase kenne ich mich zu wenig aus, um sie nachzuempfinden.

Fazit

Diesmal werden es nur 4 Lesesterne, obwohl ich das Buch gerne weiterempfehle, nur spricht mich hier der Inhalt nicht ganz so an, vielleicht weil mir das Verständnis für Delphine in dieser Lebenslage fehlt. Außerdem hatte ich nicht das Gefühl nach Beenden der Lektüre mit anderen Personen darüber diskutieren zu wollen, oder das Gelesene nochmals Revue passieren zu lassen.

 Die Faszination dieser Frauenfreundschaft, deren Entwicklung in Richtung Bedrohlichkeit driftet hat sich mir leider nicht komplett erschlossen. Und ein Nachdenken darüber, welchen Anteil die Fiktion hat und welchen Anteil die Wahrheit spielt für mich als Leser keine Rolle, viel trauriger ist doch die Tatsache, das so etwas passieren könnte, selbst wenn man das eigene Leben ständig aus diversen Perspektiven betrachtet und ein Mensch ist, der über Empathie verfügt.