Rezension

Ein starker Roman

Alte Sorten - Ewald Arenz

Alte Sorten
von Ewald Arenz

Bewertet mit 5 Sternen

Sally ist aus einer Klinik weggelaufen und findet sich zwischen Weinbergen wieder. Dort kämpft gerade Liss ihren Anhänger aus einer schlammigen Spur heraus. Spontan bietet sie Sally an, bei ihr  auf dem Hof zu wohnen. Sally/Sarah  hatte ein Problem mit Erwachsenen und mit dem Essen, das wird schnell klar. Bei Liss stellt das Mädchen verwundert fest, dass der Druck vom  Anspruch anderer gefesselt und gegen ihren Willen festgehalten zu werden, in Liss Haus nicht zu spüren ist. Der Hof, auf dem Wein, Obst und Kartoffeln angebaut werden, ist ein guter Ort für Sally. Die titelgebenden alten Obstsorten wachsen im Obstgarten, der noch immer die Handschrift des Vorbesitzers trägt. Liss wartet geduldig ab, wie es eine Tante tun würde, der man für einen Ferienaufenthalt eine schwierige Nichte  angekündigt hat. Vielleicht ist die Nichte bei Tante Liss  ja gar nicht schwierig … Liss erkennt sich in Sally, besonders ihren eigenen Hass, den sie als Jugendliche empfand, auf alles, das Dorf, den Hof, ihren Vater, darauf, dass sich nie etwas ändern würde.

Nachdem Sally einige Tage ungestört mit der Seele gebaumelt hat, wird ihr deutlich, wie schwer die Hofarbeit für eine einzelne Person ist. Ernten, Keltern, Schnapsbrennen, Brotbacken, Hühner und Bienen versorgen, Sally hat von diesen Dingen und den Wörtern dafür noch nicht gehört. Sie begreift als absoluter Neuling jedoch sofort die Abläufe und bringt genau die beiden Hände mit, die Liss bisher auf dem Hof gefehlt haben.  Dass Sally diese Stärke noch niemand bewusst gemacht hat, scheint mir ein aktuelles  Problem unserer Gesellschaft zu sein, die zu viel über Defizite und zu wenig über Stärken spricht. Die gemeinsame Arbeit der beiden Frauen wirkt wie ein Museum für Kompetenzen, mit denen eine Familie früher autark leben konnte. Für Sally sind die Abläufe zugleich Erinnerungen an den Zwang, den sie als Jugendliche stets fühlte, wenn ihr Vater Fachwissen in sie hinein füllte.

Wie ein roter Faden durchzieht Sallys Frage die Geschichte, warum Liss allein auf dem Hof lebt und warum die Dorfbewohner deutlich Distanz zu ihr wahren.

Ein guter Roman spricht seine Leser individuell an. Ich habe mich hier stark von den handwerklichen Abläufen fesseln lassen. Deshalb war mein Highlight  der Moment, als Liss erkennt: All das, gegen das ich mich als Jugendliche gewehrt habe, fliegt Sally einfach so zu, niemand muss sie zwingen.  Zwei Frauen, die sich als Jugendliche ungeheuer ähnlich sind im Hass auf Zwang und Routine, nähern sich hier  behutsam einander an. Ein starker Roman vom Überleben – im Dorf und in der Familie.