Rezension

Ein stiller Roman mit bitteren Erkenntnissen

Ein anderes Leben als dieses
von Virginia Reeves

Bewertet mit 4 Sternen

Die verlorenen Jahre in Kilby Prison

„Aber schließlich befehle ich mir, damit aufzuhören. Ich habe diese Träume schon zu oft geträumt. Sie sind vergeblich, verachtenswert, unmoralisch und tückisch wie die Kakerlaken im Speisesaal.“

 

Inhalt

 

Roscoe T. Martin hat ein ganz besonderes Steckenpferd, denn er interessiert sich für Strom, für den Bau elektrischer Leitung und die Elektrifizierung der privaten Haushalte. Damit ist er einer der Wenigen, die im Alabama der 20-er Jahre des vergangenen Jahrhunderts, ein Wissen besitzt, dass ihn zu etwas Besonderem macht.

Doch als seine Frau die väterliche Farm erbt, sieht er sich gezwungen, seinen Job aufzugeben, um fortan auf dem häuslichen Gut zu arbeiten. Dort geht es nur mäßig vorwärts, seine Frau macht ihn für den schlechten Betrieb verantwortlich und zeigt ihm die kalte Schulter, der neugeborene Sohn belastet die Ehe gleichermaßen. Roscoe gewinnt seinen Mitarbeiter und Freund Wilson für ein neues, großes Projekt. Er möchte die öffentlichen Stromleitungen anzapfen, um die Dreschmaschinen zu elektrifizieren und den Hof wieder wettbewerbsfähig zu machen – natürlich ohne Wissen der Stromlieferanten.

Tatsächlich gelingt ihm dieser Zapfenstreich, doch seine Freude ist nur von kurzer Dauer, nachdem ein Arbeiter der Stromfirma an einem elektrischen Schlag stirbt und die Machenschaften von Roscoe aufgedeckt werden. Die nächsten 20 Jahre soll er im Gefängnis verbringen, sein Freund in der Kohlemine und Marie, Roscoes Frau sitzt allein zu Haus … ein gärender Prozess zwischen begrabenen Träumen, traurigen Wahrheiten und dem Verlust vieler Lebensjahre beginnt.

 

Meinung

 

Der amerikanischen Autorin Virginia Reeves ist mit ihrem Debütroman, der es auf die Longlist des Man-Booker-Preises geschafft hat, ein kleines Kunstwerk gelungen, ein stiller sehr intensiver Roman über die Gerechtigkeit an sich , über Schuld und Versagen, über Verzeihen und jahrelanges Schweigen, über den Groll gegen die eigene Person und den unbarmherzigen Verlauf des Lebens. Für mich liegt der Wert dieses Buches in seiner Vielschichtigkeit gepaart mit einer alles umfassenden Traurigkeit und der bitteren Akzeptanz jener Dinge, die man einfach nicht ändern kann.

 

Inhaltlich gliedert die Autorin den Roman in drei Stationen: die Zeit vor dem Unfall, das Leben in Kilby Prison und die Rückkehr des Gefangenen nach dem Abgelten seiner Strafe. Erzählerisch sind es zwei Stimmen, die zu Wort kommen: einmal der übergeordnete Erzähler, der die Zusammenhänge kennt und alle Protagonisten vereint, zum anderen Roscoe Martin selbst, mit seiner Stimme aus dem Hintergrund, seinen Erfahrungen aus dem Gefängnis. Beide Varianten finde ich hervorragend gewählt, bestens umgesetzt und schlüssig erklärt. Die wechselnden Stränge bereichern dieses Buch, ohne es auseinanderzupflücken.

 

Eigentlich trifft dieser Roman genau meinen Nerv, denn die Geschichte vereint so viele Punkte des menschlichen Lebens, berührt wichtige Stationen und schafft eine Art Vertrauensbasis zu den Protagonisten. Irgendwie kann man sie alle verstehen, ohne ihnen wirklich nah zu kommen. Und gleichzeitig bleibt da eine Distanz, von der ich nicht sagen kann, ob sie gewollt ist oder nur so von mir empfunden wird. Die mit sich hadernden Protagonisten, ihre inneren Ansichten, ihre Werte und ihr Umgang miteinander, werfen mich zurück, lassen mich von außen auf ein trauriges, unabänderliches Schicksal blicken, dem man nichts entgegensetzen kann. Dafür ziehe ich einen Lesestern ab, denn so detailliert alle Empfindungen auch geschildert werden, so offen bleibt doch der Lernprozess. Immer wieder drängt sich hier die Frage auf: „Was lernt der Mensch aus seinen Fehlern? Warum kann er nicht einsehen, dass es seinen Wert nicht schmälert, wenn die Perfektion fehlt?“

 

Fazit

 

Ich vergebe sehr gute 4 Lesesterne für diesen stillen aber bitteren Roman. Glaubhafte Charaktere, gepaart mit einer interessanten Handlung, die tiefe Einblicke in das Leben innerhalb der Gefängnismauern bietet und darüber hinaus auch das Leben in Freiheit beleuchtet. Ein Dasein mit vielen inneren Dämonen, mit Menschen die etwas anderes wollen, die sich nicht mehr verstehen und deren Beziehungen sich ganz langsam und schleichend zersetzen. Begriffe wie Demut, Freundschaft und Akzeptanz kommen ebenso zur Sprache wie Melancholie und Vergessen. Wenn es doch nur gelungen wäre, die Menschen hinter der Geschichte nicht nur darzustellen, sondern ihnen eine echte Stimme zu geben, dann wäre dieser Roman tatsächlich ein Meisterwerk.