Rezension

Ein stilles, eindringliches Meisterwerk mit existentieller Tiefe

Auf Erden sind wir kurz grandios - Ocean Vuong

Auf Erden sind wir kurz grandios
von Ocean Vuong

Bewertet mit 5 Sternen

Des Menschen Fragilität und Stärke

Wie soll man das Romandebüt eines jungen vietnamesisch-amerikanischen Schriftstellers beschreiben, das mit seiner Wahrhaftigkeit und Lebensklugheit mitten ins Herz trifft? Dessen Gegensätze aus Schönheit und Rohheit aufeinanderprallen und doch ein symbiotisches Ganzes ergeben. Und dessen Wechsel von poetisch-ausdrucksvoller und drastischer Sprache scheinbar mühelos gelingen. Die bewegende, tragische Geschichte seiner Hauptfigur erzählt Vuong einfühlsam und würdevoll – ohne Pathos, aber mit einer Eindringlichkeit, die ihresgleichen sucht. 

Es ist ein Kaleidoskop der Erinnerungen, das Ocean Vuongs 28-jähriger Protagonist eindrücklich zutage bringt. Eine Retrospektive auf ein junges Leben, das von vielen negativen Erfahrungen, aber auch von stillen Glücksmomenten geprägt ist. Es ist ein Blick zurück im Zorn und in Wehmut, aber auch ein Zurücksehnen nach der einen großen Liebe, die der Ewigkeit nicht standhielt. Über allem ruht das Wissen um die existentiellen Dilemmata, um das, was uns als Menschen in all unserer Widersprüchlichkeit ausmacht, was uns antreibt und am Leben hält.

Ein langer Brief

In einem langen Brief an seine vietnamesische Mutter schreibt sich der Ich-Erzähler alles von der Seele, auch wenn er weiß, dass sie ihn nie lesen wird, denn sie ist Analphabetin. Das bisschen Englisch, das sie beherrscht, reicht gerade für ihren Job in einem Nagelstudio in Connecticut. Er hingegen hat es trotz vieler Hindernisse weit gebracht: Als einziger seiner Familie, die nach dem Vietnam-Krieg in die USA floh, hat er das College besucht und seinen Abschluss gemacht. Er kann sogar erste Erfolge mit seiner Dichtkunst verzeichnen. Doch bevor er das Erreichte genießen kann, muss er den Ballast der Vergangenheit abwerfen. Schonungslos und ehrlich zu den Menschen sein, die ihm am nächsten stehen.

Mutter und Monster

Die Adressatin seiner Lebensrückschau ist seine Mutter Hong, Tochter eines vietnamesischen Bauernmädchens und eines amerikanischen Soldaten, die ihn von Kindesbeinen an regelmäßig schlägt. In ihren Augen ist er ein viel zu weinerliches Kind, das sich alles gefallen lässt und sich nie wehrt. Seine kindlichen Versuche, sie die englische Sprache zu lehren, empfindet sie als Affront, als Umkehrung der natürlichen Hierarchie, denn nur Eltern bringen ihren Kindern etwas bei. Ihre Hilflosigkeit und Entwurzelung entladen sich in unberechenbarer Aggression. „Monster“ nennt er sie, als er älter ist, um ihr zu zeigen, wie sehr er ihr Verhalten verachtet. Doch im selben Moment tut es ihm auch schon wieder leid, denn er weiß nur zu gut, dass sie gemeinsam mit ihrer Mutter Lan der Hölle des Vietnam-Krieges nur knapp entkommen ist. Und dass sie sich manchmal, wenn die schlimmen Erinnerungen kommen, im Schrank versteckt und Chopin hört.

Doch es gibt auch schöne Momente, die er mit seiner Mutter zelebriert: Ihre gemeinsamen Shopping-Touren, für die sie sich schick machen, obwohl sie sich nur eine Handvoll Schokoladentäfelchen leisten können. Ihre einfache Art, ihm mit zwei vietnamesischen Worten zu sagen, dass sie etwas schön findet, während er die Dinge für sie im Englischen benennt. Oder ihre Versuche, ihn mit Milch zu einem starken Jungen aufzupeppeln, um ihn vor den Gewalttätigkeiten seiner Mitschüler zu schützen, die in ihm als „dummen Ausländer“ eine ideale Zielscheibe sehen.

Großmutter und Beschützerin

Die konfliktbeladene Beziehung zu seiner Mutter belastet ihn sehr, doch es gibt einen Menschen, der ihm Halt gibt und ihn beschützt: Seine schizophrene Oma Lan, die bei ihnen wohnt und ihm, als er eines Tages von zuhause wegläuft, wieder zurückholt und ihm erklärt, dass seine Mutter „krank“ ist. Die ihn liebevoll „Little Dog“ nennt, ihm Reis mit Jasmintee zubereitet und ihn so an ihren kleinen Glücksmomenten teilhaben lässt. Doch sie ist nicht nur seine Vertraute. Als er älter ist, wird er ihr Vertrauter gleichermaßen: Sie erzählt ihm ihre tragische Lebensgeschichte: Wie sie einer arrangierten Ehe entfloh, wie ihre Eltern sie verstießen, als sie schwanger war, wie sie sich und ihrer Tochter Blumennamen gab (Lan = Lilie, Hong = Rose), um etwas Schönheit in ihre triste Existenz zu bringen und wie sie sich in Vietnam prostituierte, um mit ihrer Tochter zu überleben.

Geliebter und Schicksalsmensch

Als er seinen ersten Job auf einer Tabakfarm bekommt, ist er zum ersten Mal glücklich und hat ein Gefühl von Unabhängigkeit, auch wenn die sklavenähnlichen Arbeitsbedingungen mehr als zu wünschen übrig lassen. Er verliebt sich in Trevor, den attraktiven Enkel des Farmbesitzers, und eine schicksalhafte Beziehung nimmt seinen Lauf. Trevor kann nicht zu seiner Homosexualität stehen und behandelt ihn des Öfteren mehr als geringschätzig. Ähnlich wie in der Beziehung zu seiner Mutter findet er sich auch mit Trevor in einem Wechselbad der Gefühle zwischen Liebe und Gewalt wieder, eine demütigende Spirale, der er scheinbar nicht entkommen kann. Doch die glücklichen Stunden mit Trevor möchte er keinesfalls missen, dafür nimmt er alles in Kauf und unterwirft sich völlig. Dies ändert sich jedoch, als Trevor – resultierend aus einer Schmerzmittel-Abhängigkeit – schwer drogensüchtig wird. Hilflos muss er den körperlichen Verfall seines Geliebten mit ansehen, bis er schließlich gezwungen ist, eine Entscheidung zu treffen, die sein Leben für immer verändern wird…

Ein stilles, eindringliches Meisterwerk mit existentieller Tiefe

Das literarische Debüt von Ocean Vuong ist ein stilles, eindringliches Meisterwerk und zählt für mich schon jetzt zu den besten Romanen dieses Jahres. Der Autor verknüpft die singuläre Lebensgeschichte seiner Hauptfigur mit existentiellen Themen und analysiert so auf eindrucksvolle Weise die Conditio Humana, die Natur des Menschen, in all ihren Facetten. Am Beispiel seiner Mutter und Großmutter, die er als "Produkte des Krieges" bezeichnet, schildert er auf bewegende Weise, was Menschen tun, um zu überleben, wie sie sich selbst neu erfinden, um den allgegenwärtigen Schmerz zu mildern und wie sie versuchen, trotz des erlebten Grauens und des oftmals daraus resultierenden Verlustes ihrer geistigen Gesundheit ihrem Leben wieder einen Sinn zu geben. Und wie sie sich angesichts von Entwurzelung und Identitätskonflikt dem Leben in einer für sie fremden, neuen Umgebung jeden Tag aufs Neue stellen.

"Auf Erden sind wir kurz grandios" illuminiert in eindrucksvoller Weise die essentiellen Attribute unseres Menschseins: Unsere Fragilität und unsere Stärke. Die Fähigkeit, sich auch als zerbrechliches Individuum in einer Welt zu behaupten, in der Schwäche als verachtenswert gilt und Stärke zumeist mit Gewalt einhergeht. Liebe und Schönheit zu erkennen und wertzuschätzen, auch wenn die existentiellen Bedingungen alles andere als ideal sind. Und, dem Protagonisten gleich, niemals aufzugeben und seinen Weg – auch als Außenseiter – stoisch weiterzugehen, um irgendwann seinen Platz im Leben und in der Gesellschaft zu finden. Doch im Gegensatz zum Amerikanischen Traum ist diese Lebensmaxime nicht ausschließlich mit materiellem Erfolg verbunden. Bei sich angekommen zu sein, ist Errungenschaft genug.