Rezension

Ein Stück vergessenes Land und zwei Frauen, die wissen, wie sich Einsamkeit anfühlt.

Was uns erinnern lässt - Kati Naumann

Was uns erinnern lässt
von Kati Naumann

Bewertet mit 5 Sternen

Grenzerfahrungen und was uns erinnern lässt. Die Autorin selbst verbrachte im damaligen Sperrgebiet im Thüringer Wald einen Großteil ihrer Kindheit bei den Großeltern. Ihr sorgfältig recherchierter Roman ist also auch eine Spurensuche. Auf einer Wanderung findet die junge Milla 2017 im Keller des morbiden Hotels Waldeshöh einen Schulaufsatz von 1977. Als Milla begriff, wo sie sich befand, stellten sich die winzigen blonden Härchen an ihren Armen auf. In ihrer Vorstellung hatte sie sich immer ausgemalt, wie der verlorene Ort aussehen würde, den sie einmal als Erste entdeckte. Sie hatte sich etwas Romantisches vorgestellt, ähnlich dem französischen Château, mit mottenzerfressenen Samtvorhängen und einer Puppe auf einem Flügel mit zahnlückiger Tastatur. Zur Not auch wie die heruntergekommenen Erholungsheime im Harz, mit alten Metallbetten und leeren Spinden. All diese Orte waren leer geräumt worden, und die Dinge, die noch darin herumstanden, wirkten wie geschickt drapierte Requisiten. Aber das hier war keine Kulisse. Es war ein gut sortierter Wirtschaftsraum, in dem nicht einmal sonderlich viel Staub lag. Milla hatte das Gefühl, wenn sie jetzt wieder die Treppe hinaufstieg, würde sie in eine gemütliche Küche kommen, wo auf dem Herd eine Suppe vor sich hin köchelte. Obwohl das Haus darüber amputiert worden war, lebte der Keller noch. Neben bis zur Decke geschichtetem Holz lag ein säuberlicher Stoß mit Zeitungen und Zeitschriften. Die FF dabei, das Freie Wort. Die oberste trug das Datum vom 23. Juni 1977. Daneben stapelten sich gebündelte blassgrüne Schulhefte. Milla schnitt die Paketschnur auf und sah die Hefte durch. Sie gehörten einem Andreas Dressel, Klasse 6a, und einer Christine Dressel, Klasse 8b. Das Zuhause der damals 14-jährigen Christine ist das ehemals mondäne Hotel Waldeshöh am Rennsteig im Thüringer Wald. Seit der Teilung Deutschlands liegt es hinter Stacheldraht in der Sperrzone direkt an der Grenze. Niemand darf das Waldstück ohne Passierschein betreten. Fast scheint es, als habe die DDR das Hotel und seine Bewohner vergessen. Dieser Ort lässt die junge Frau nicht mehr los, und so macht sie sich auf die Suche nach Christine, um mehr über das Hotel zu erfahren ... Angefangen hatte es mit dem Château Verdure. Milla hatte ein Bild davon gesehen. Seit Milla das Château Verdure gesehen hatte, spürte sie eine merkwürdige Sehnsucht in sich. So als wäre sie nicht am richtigen Platz auf der Welt. Seitdem suchte Milla nach solchen Plätzen. 
Hunger, Vertreibung, Wiedervereinigung und Versöhnung: In "Was uns erinnern lässt" erzählt Kati Naumann spannend und fesselnd das bewegende Schicksal zweier Frauen vor dem Hintergrund deutsch-deutscher Geschichte und der Kulisse des Rennsteigs im Thüringer Wald. Ein Roman-Highlight für alle Leserinnen von "Altes Land", "Bühlerhöhe" und Carmen Korns Jahrhundert-Trilogie. An dieses Buch wird man sich erinnern.