Rezension

Ein Stückchen vom Himmel

Die Erfindung der Flügel - Sue Monk Kidd

Die Erfindung der Flügel
von Sue Monk Kidd

Bewertet mit 5 Sternen

Sie holte ein violettes Band ganz oben aus dem Vorratsschrank, schlang es mir um den Hals und machte eine Schleife. Aunt-Sister rieb mir mit einem Lappen das Schwarz von den Wangen. Dann wickelte mir die Missus mehrere Bänder um die Taille. … Die Missus prüfte, wie ich mit den violetten Bändern aussah. Dann fasste sie mich am Arm und führte mich in den Salon, wo die Damen mit ihren aufgefächerten Kleidern und ihren Porzellantässchen und Spitzenservietten saßen. Eine Dame spielte das kleine Klavier, das Cembalo heißt, aber sie hörte auf, als die Missus in ihre Hände klatschte. Alle Augen richteten sich auf mich. Die Missus sagte: »Das hier ist unsere kleine Hetty. Sarah, Liebes, das ist dein Geschenk, eine Kammerzofe eigens zu deinen Diensten.«

Charleston, South Carolina, im Jahr 1803. An ihrem elften Geburtstag erhält Sarah Grimké, Tochter eines wohlhabenden Gutsbesitzers ein standesgemäßes Geschenk: Die gleichaltrige Hetty, seit ihrer Geburt Sklavin im Hause Grimké.

Sarah ist entsetzt, dieses Geschenk will sie nicht annehmen und muss sich doch dem Druck der Eltern beugen. Schon früh hat sie eine eigene Einstellung zum Thema Sklaverei entwickelt, die sich von der aller weißen Menschen in ihrer Umgebung unterscheidet. Und noch etwas unterscheidet sie von den übrigen Frauen und Mädchen: Sie liest für ihr Leben gern, braucht Bücher wie die Luft zum Atmen, sehnt sich nach Bildung und träumt davon, die erste weibliche Anwältin zu werden. All diese Dinge müssen jedoch heimlich geschehen, entsprechen sie doch in keiner Weise dem, was sich für ein weibliches Wesen schickt. So schleicht sie heimlich in jeder Nacht in die Bibliothek des Vaters, der dies zwar bemerkt, aber anfangs toleriert. Bis zu dem Tag, an dem herauskommt, dass Sarah Hetty, mit der sie sich angefreundet hat, im Lesen und Schreiben unterrichtet. Beide werden schwer bestraft und doch bleibt in ihnen der Wunsch wach nach Freiheit, nach Flügeln…

 

Was für ein Buch! Ich war völlig gefesselt und mochte es gar nicht mehr aus der Hand legen. Und dass, obwohl manche Stellen schon beim Lesen wehtaten.

 

Das Buch verfolgt den Lebensweg von Sarah Grimké und der Sklavin Hetty (die mit richtigem Namen, also dem Namen, den ihre Mutter ihr gab, Handful heißt) über mehr als 3 Jahrzehnte hinweg, von 1803 bis 1838. Zum Thema Sklaverei in den Vereinigten Staaten muss ich grundsätzlich nichts sagen, nur ein paar Zahlen habe ich Wikipedia entnommen. So wuchs in den Südstaaten die Zahl der Sklaven bis 1865 auf mehr als vier Millionen an. In South Carolina lebten mehr schwarze als weiße Menschen, die schwarzen jedoch unter völlig menschenunwürdigen Verhältnissen. Kinder wie Hetty Handful wuchsen auf in einer Welt, in der es für sie von klein auf nur Pflichten gab, keinerlei Rechte und in der drakonische Strafen zum Alltag gehörten.

»Lärm stand nämlich auch auf ihrer Liste von Sklavensünden, und die kannten wir alle auswendig. Ganz oben: Diebstahl. Danach: Ungehorsam. Auf Platz drei: Faulheit. Auf vier: Lärm. Ein Sklave sollte wie der Heilige Geist sein – man sieht ihn nicht, man hört ihn nicht, aber er schwebt immer eifrig um einen herum.«

 

Bildung war für Sklaven natürlich auch tabu, niemals durften sie Lesen und Schreiben lernen. Sarah muss sich nach ihrem „Vergehen“ anhören, dass sie sogar ein Gesetz verletzt hat! Die Erklärung ist einfach, denn je ungebildeter ein Mensch ist, desto leichter kann man ihn unterdrücken. Diese einfache Regel gilt leider in Teilen der Welt noch heute.

 

Ich denke, dass es ähnliche Gedanken waren, die Frauen lange Zeit den Zugang zu Bildung verwehrten. Sarah muss da schon als Mädchen harte Nackenschläge einstecken, nicht mal die Mutter hält zu ihr.

»Dein Vater glaubt, dass du als Mädchen völlig aus der Art schlägst, mit deinem Hunger nach Büchern und deinen Ambitionen, doch da irrt er. … Jedes Mädchen kommt mit gewissen Ambitionen auf die Welt und wenn es nur die Hoffnung ist, dass es nicht mit Leib und Seele seinem Ehemann gehören muss. … Tatsächlich aber muss einem jeden Mädchen dieser Ehrgeiz zu seinem eigenen Besten ausgetrieben werden. Ungewöhnlich ist an dir nur die Entschlossenheit, mit der du gegen das Unvermeidliche angehst. Du hast dich widersetzt, und so kam es, dass du wie ein Pferd gebrochen wurdest.«

 

Ebenso natürlich, wie die Überlegenheit der Weißen gegenüber den Schwarzen angesehen wird, ist die Einordnung der Geschlechter, die Rolle der Frau. Hetty Handful – auch sie ist eine intelligente junge Frau -  erkennt, wie es Sarah geht. 

»Sie war gefangen, so wie ich, wenn auch von ihren geistigen Schranken und den geistigen Schranken all der Menschen rings um sie, und nicht vom Gesetz. Mr. Vesey hatte in der afrikanischen Kirche immer wieder gesagt: Gebt acht, denn ihr könnt zweifach versklavt werden, einmal mit eurem Körper, und einmal mit eurem Geist.«

Sarah wird viele Jahre brauchen, bis sie lernt, sich von ihren geistigen Schranken zu lösen. Doch letztlich wird sie, gemeinsam mit ihrer jüngeren Schwester Angelina, zu einer wichtigen Vorkämpferin, sowohl was die Befreiung der Sklaven als auch was die Rechte der Frau angeht.

 

Handful kämpft ebenfalls, aber ihr Kampf ist natürlich noch existenzieller. Der unbändige Wunsch nach Freiheit und Selbstbestimmung, den ihre Mutter ihr vermittelte, begleitet sie ständig. Thematisiert werden hier gezielter Ungehorsam, Fluchtversuche, geplante Sklavenaufstände – und grausame Strafen. Ich habe es oben schon geschrieben und erlaube mir, mich zu wiederholen: Es tat manches Mal beim Lesen weh. Leider ist die Geschichte der Menschheit voller Beispiele unmenschlichen Verhaltens. Umso bewundernswerter sind die Individuen, die sich nicht unterkriegen lassen – ich habe mich oft gefragt, wie sie das bloß schaffen?! 

»Gott erfüllt uns mit allerlei Sehnsüchten, die dem Lauf der Welt entgegenstehen – aber dass diese Sehnsüchte so häufig zu nichts führen, nun, ich glaube nicht, dass auch das Gottes Werk ist. … Wir beide wissen doch, dass dies das Werk der Männer ist. … Das Leben ist nicht für uns gemacht, Sarah. Aber für Handful und ihre Familie ist es noch viel brutaler. Wir alle sehnen uns nach einem Stückchen Himmel. Oder nicht? Ich denke, dass Gott uns solche Sehnsucht in die Herzen pflanzt, damit wir zumindest versuchen, den Lauf der Dinge zu verändern. Wir müssen es einfach versuchen.«

 

Besonders bemerkenswert ist, dass die Geschichte reale Vorbilder hat, worüber uns ein umfangreiches Nachwort informiert. Sarah und Angelina Grimké waren die ersten offiziellen Rednerinnen der Anti-Sklaverei-Bewegung und zählen in den USA zu den bedeutenden Frauenrechtlerinnen. Der Roman folgt in groben Zügen ihrem Leben, die meisten Ereignisse und Erlebnisse, die für sie von Bedeutung waren, finden sich im Roman wieder.

 

Was über das Leben von Hetty Handful im Roman geschrieben steht, ist fiktiv. Tatsächlich jedoch bekam Sarah als Mädchen eine Sklavin namens Hetty als Kammerzofe. Und tatsächlich setzte sich Sarah über die Gesetze von South Carolina hinweg und brachte ihr Lesen bei, wofür beide schwer bestraft wurden. Die echte Hetty starb aber kurz darauf.

 

Das Buch erzählt die Geschichte unserer Protagonistinnen chronologisch, kapitelweise wechselnd aus Sarahs und Handfuls Sicht. Als Leser bekommt man dadurch besonders gute Einblicke in die doch sehr verschiedenen Welten der beiden. Auf Sarahs Seite die vielen Zwänge und Regeln, die ihr aus Familie, Gesellschaft und Kirche auferlegt werden. Und in den Kapiteln, die Handful erzählt, gibt es sehr viel Interessantes über die afrikanische Kultur zu lesen, die sich Handful und ihre Mutter versuchen, so gut es geht, zu bewahren.

 

Fazit: Ein großartiges Buch, eine faszinierende Geschichte. Informativ, fesselnd und berührend. Lesen! 

 

»Es war einmal eine Zeit, da konnten die Menschen in Afrika fliegen. Das hat Mauma mir eines Abends erzählt. Damals war ich zehn. „Handful“, hat sie gesagt, „deine Omama hat es noch selbst gesehen. Sie sagt, über Bäume und Wolken sind sie geflogen. Sie sagt, wie Schwarzdrosseln sind sie geflogen. Dann hat man sie hergebracht, und da war der Zauber vorbei.“ …

Ich war genauso klug wie meine Mauma. Selbst mit zehn war mir klar, Menschen, die fliegen konnten, das war Blödsinn. Wir waren doch keine besonderen Menschen, die ihre Zauberkräfte verloren hatten. Wir waren Sklaven, für uns ging es nirgendshin. Erst später habe ich verstanden, was sie mir sagen wollte. Wir konnten wirklich fliegen, aber das hatte nichts mit einem Zauber zu tun.«