Rezension

Ein therapeutisches Internat für Rückkehrer aus fantastischen Welten

Der Atem einer anderen Welt - Seanan Mcguire

Der Atem einer anderen Welt
von Seanan McGuire

Bewertet mit 3.5 Sternen

Ms Eleanor Wests Haus für Kinder auf Abwegen ist ein therapeutisches Internat für Jugendliche, die wie Alice im Wunderland oder die Kinder aus dem Narnia-Universum durch ein Portal eine fantastische Welt betreten haben. Eleanors Schüler und Schülerinnen (fast alle ihrer Schützlinge sind Mädchen) konnten allerdings nach Jahren der Abenteuer nicht zu ihren Eltern zurückkehren; da ihre Eltern die Reifung zum sexuellen, unabhängig denkenden Wesen nicht akzeptieren wollten. Sehr entlarvend, dass eine Mutter fordert, sie möchte ihr altes Kind zurück, eine idealisierte Person auf dem Entwicklungsstand einer Zwölfjährigen. Eleanor, inzwischen fast 100 Jahre alt, widmet ihr Leben und ihr Vermögen dem Projekt, Rückkehrer aus fantastischen Welten wieder in die Realität zu integrieren.

Der „Atem einer anderen Welt“ umfasst „Every Heart a Doorway, Down among Sticks and Bones, Beneath a Sugar Sky“, 3 Einzelbände von je 150 Seiten. Der erste Band führt ins Internatsleben und die Figuren ein, der zweite vertieft in einer Rückblende die Abenteuer des Zwillingspaars Jaqueline und Jillian vor ihrer Internatszeit, der dritte schließt zeitlich an die Ereignisse im Einstiegsband an. Psychologisch ist die Thematik höchst interessant, dass Kindern so intensiv starre Rollenzuschreibungen aufgedrängt werden, bis sie ihre Persönlichkeit selbst nicht mehr wahrnehmen können. Die Gefahr, von den Eltern nicht mehr geliebt/zurückgenommen zu werden, weil man ihren Vorstellungen nicht entspricht, bedient deutlich - nicht nur kindliche - Urängste. Da Eleanors Schützlinge ziemlich exakt zu Beginn der Pubertät über Treppen und Türen in ihre fantastischen Abenteuer aufbrachen, umfasst die Ablehnung/das Falschsein hier ebenso die Identität der Jugendlichen und ihre sexuelle Orientierung.

Die Eltern der Zwillinge werden reichlich simpel als überforderte, kalte Rabeneltern gezeigt. Wir erinnern uns dabei an die Irrwege, die die amerikanische Kinderpsychologie nahm, indem sie lange sowohl Entwicklungsstörungen des Autismus-Spektrums, als auch ADHS kalten, intellektuellen Müttern anlastete, die ihre Kinder angeblich nicht genug liebten, keine Rede von den Vätern. Auch die Darstellung von Kade, dem schneidernden trans Jugendlichen, wirkt aus meiner Sicht als Mutter und europäischer Leserin höchst fragwürdig. Er wird nicht etwa so dargestellt, dass ich mir ein Bild seiner Persönlichkeit machen kann, sondern er bekommt das Etikett „Geschlechtsidentitätsstörung“ angeheftet. Was hat eine - fragwürdige - psychiatrische Diagnose aus dem ICD-10 Schlüssel in einer fantastischen Welt zu suchen – und warum treibt Seanan Mcguire hier Feuer mit Feuer aus? Sie hebt unübersehbar und wiederholt den pädagogischen Zeigefinger, dass starre Rollenzuschreibungen Kinder unglücklich machen, und arbeitet selbst mit der klischeehaften Etikettierung von Figuren, anstatt sie ihren Lesern beschreibend nahezubringen.

Ein therapeutisches Internat für Fantastik-Fans mit Anpassungsproblemen finde ich durchaus charmant und ein Internats-Thema verkauft sich schon immer erfolgreich. Auch wenn ich gerne McGuires Blick in den Spiegel folge, wie es die fantastische Literatur selbst mit starren Rollenzuschreibungen hält, habe ich mich als Mutter und erwachsene Leserin hier nicht ganz ernst genommen gefühlt. Da die Protagonisten ihre Abenteuer zwischen dem 12. und 17. Lebensjahr erleben und die Einzelbände sich vom Umfang eher an ungeübte Leser richten, handelt es sich meiner Einschätzung nach hier um eine Jugendbuchreihe. 150 Seiten pro Einzelband sind jedoch offensichtlich zu wenig, um Figuren zu vertiefen und Charaktere aus dem Bereich LGBT differenziert darzustellen.