Rezension

Ein Thriller, so rau wie das Land

Das Netz - Lilja Sigurdardottir

Das Netz
von Lilja Sigurdardóttir

Bewertet mit 4.5 Sternen

Handlung:⠀

Alles fängt damit an, dass Sonja von ihrem Mann Adam in flagranti beim Ehebruch erwischt wird. Mit einer Frau – und noch dazu einer, die ihm beileibe keine Unbekannte ist.⠀

Sonja kann sich keinen Anwalt leisten, verliert das Sorgerecht. Darüber hinaus braucht sie Geld, um sich eine stabile Existenz einzurichten, bevor sie versucht, ihren Sohn zurückzubekommen. Da wirft ihr jemand einen finanziellen Rettungsring zu, und sie soll dafür nur etwas ausliefern – alles ganz harmlos, alles ganz normal. Bevor Sonja sich versieht, ist sie rettungslos in den Kokainschmuggel verstrickt.⠀

Der alte Zollbeamte Bragi hat Sonja schon im Visier, obwohl er noch nichts gegen sie in der Hand hat, und auch ihre Beziehung zu ihrer Geliebten Agla sorgt für zusätzlichen Stress. Denn erstens ist diese selber in zwielichtige Geschäfte involviert, zweitens reagiert sie mit explosiver Wut auf die leiseste Andeutung, sie sei vielleicht lesbisch, ist gleichzeitig aber obsessiv besitzergreifend.⠀

Meine Meinung:⠀

Die Handlung ist komplex, sehr geschickt und vielschichtig konstruiert. Eine düstere Atmosphäre der Hoffnungslosigkeit durchzieht dass ganze Buch – es spielt kurz nach dem katastrophalen Finanzcrash in Island, und das führt dazu, dass Unschuldige in die Kriminalität abrutschen und bereits Kriminelle sich noch tiefer darin verstricken. Eine perfekte Grundlage für einen Krimi der Zwischentöne und Abgründe.⠀

Die Charaktere sind zwiespältig, wären auch in einem Film Noir nicht fehl am Platz. Nicht nur, dass jeder durchaus gravierende Probleme und Sorgen mit sich herumschleppt – nein, sie haben zusammengenommen auch eine erstaunliche kriminelle Energie. Mir ging es oft so, dass ich Sonja oder Agla die Daumen drückte, mit ihnen mitfieberte, nur um mir dann plötzlich zu denken: Moment mal, sie ist hier doch gar nicht die Gute...? ⠀

Sonja ist vielleicht aus Naivität und Verzweiflung abgerutscht in den Kokainschmuggel, aber sie steckt dennoch viel Planung in ihre Touren, lässt Skrupel nicht zu, tut schreckliche Dinge, damit das Geld weiter fließt. Kaum ein Gedanke an die Menschen, denen die Sucht das Leben zerstört. Ja, sie will raus, sie will sich aus dem Netz befreien – aber das ist zu einem großen Teil Eigennutz, mit nur einem kleinen Anteil echter Reue. Eigentlich verspürt sie beim Schmuggeln sogar ein angenehmes Prickeln, einen echten Kick.⠀

Dennoch hat es mir erstaunlich viel Spaß gemacht, zu verfolgen, auf welche kreativen Ideen sie kommt, um kiloweise Kokain ins Land zu schmuggeln. Das grenzt schon an Genie! Ich habe mich zwischendurch unbehaglich gefragt, ob das Buch nicht sogar als Lehrbuch für angehende Schmuggler dienen könnte... ⠀

Ex-Bankerin Agla ist bissig, aggressiv, launisch – und eine Meisterin der Selbstverleugnung. Sie ist bis über beide Ohren verliebt in Sonja, in fast schon krankhafter Intensität, aber sie besteht darauf, das sei nur eine Ausnahme, sie sei "keine von denen". Ich hätte sie oft schütteln können, denn ihre Beziehung zu Sonja ist toxisch, pures Gift für beide, und das eigentlich nur, weil Agla sich für ihre Sexualität selber verachtet. Außerdem entpuppt sie sich nach und nach als Mensch mit fragwürdigen Prinzipien, je weiter der Prozess voranschreitet, der kriminelle Deals der Bank aufdecken soll. Auch sie kennt keine Reue, bereut nur, dass jetzt wahrscheinlich alles auffliegt. ⠀

Bei ihr gilt wirklich: Geld bewegt die Welt. Und sie säuft sich im Grunde langsam ins Grab, denn die Leber wächst nun mal nicht mit ihren Aufgaben...⠀

Der alte Zollbeamte Bragi ist fast schon ein Lichtblick, verglichen mit Sonja und Agla. Er scheint ein aufrechter Mensch zu sein, geht auf in seiner Arbeit, liebt seine demente Frau innig. Und dieser Teil der Geschichte ist unglaublich tragisch, denn er kann sich keine gute Betreuung leisten, muss hilflos mitansehen, wie sich seine geliebte Frau im Heim rätselhafte blaue Flecken zuzieht... Aber auch Bragi ist keineswegs eindimensional, zeigt im Laufe der Geschichte überraschende Seiten.⠀

Man muss der Spannung Zeit geben, sich aufzubauen. Selbst dann sorgt der langsame Abstieg in den gesellschaftlichen Morast eher für unterschwelliges Unbehagen als kribbelndes Adrenalin – der dumpfe Schmerz eines verrotteten Zahns, den die Autorin für einen Großteil des Buches nicht ziehen will. ⠀

Es sind vor allem die Charaktere, die dafür sorgen, dass man weiterlesen will, obwohl sie keine typischen Sympathieträger sind. Agla mochte ich zum Beispiel nicht einmal, wollte aber dennoch wissen, wie es mit ihr weitergeht.⠀

Der Schluss enttäuschte mich zunächst – bis mir klar wurde, dass es sich hier um den ersten Band einer Trilogie handelt! Dinge, über die ich gerne mehr erfahren hätte, die noch nicht schlüssig aufgeklärt wurden, werden dann wohl im zweiten Band wieder aufgegriffen.


Diese Rezension erschien zunächst auf meinem Buchblog:
https://wordpress.mikkaliest.de/rezension-lilja-sigurdardottir-das-netz/