Rezension

Ein unfassbar emotionales und ergreifendes Buch, über die Verbundenheit von Mutter und Tochter!

Das Mädchen, das rückwärts ging
von Kate Hamer

Bewertet mit 5 Sternen

Die nach der Trennung ihrer Eltern Beth und Paul bei ihrer Mutter lebende Carmel ist anders als andere Kinder ihres Alters: Oft träumt sie vor sich hin und vergisst dabei Raum und Zeit, sie ist sehr intelligent, mitfühlend, reif, sehr sensibel und hat darüber hinaus eine blühende Phantasie. Die kleinsten Dinge, die für andere Menschen so uninteressant und gewöhnlich wirken, ziehen das kleine Mädchen in ihren Bann. Ob nun ein Baum der sich im Wind bewegt oder ein Käfer der des Weges geht: Sie versinkt vollkommen beim Beobachten dieser Dinge. Sie scheint dann in einer anderen, weit abgelegenen Welt zu sein.. In diesen Momenten bemerkt Carmel nicht was um sie herum geschieht, hört es nicht wenn man ihren Namen ruft, nimmt es nicht wahr, wenn andere sie suchen.
Carmels Mutter Beth hat immer Angst um ihr Kind, da sie befürchtet, sie verlieren zu können. Als die beiden an Carmels achten Geburtstag ein Geschichtenfestival besuchen, hat Beth schon ein ungutes Gefühl. Doch sie weiß, dass sie sich immer viel zu viele Sorgen macht und beschließt ein wenig mehr loszulassen. In den auf dem Platz aufgeschlagenen Zelten werden Geschichten vorgetragen, kleine Szenen vorgespielt und in einem anderen Zelt stellt eine Autorin ihr neues Kinderbuch vor. Als man im Anschluss daran Fragen stellen darf, meldet sich die kleine Carmel sofort. Und dort, vor den vielen Menschen, erzählt sie, dass sie ihre Großeltern nicht kennt, da sie sie noch nie gesehen hat und dass ihre Mutter seit Jahren mit ihnen im Streit liegt.
Als Mutter und Tochter wieder aus dem Zelt treten, wird der Platz immer voller und zunehmend unübersichtlicher. Leute drängeln, schubsen, Carmels kleiner Kopf verschwindet immer wieder, aber kommt jedes mal wieder zum Vorschein. Als dann auch noch dichter Nebel aufzieht verstärkt sich Beths schlechtes Gefühl, aber da Carmel und sie sich zuvor leicht gestritten haben, möchte ihr Kind nicht auf sie hören, sondern einfach eine Weile abtauchen, unsichtbar werden und die Stille genießen. Einfach mal alleine sein.
Und so versteckt sich das kleine Mädchen unter einem Tisch und während sie anfangs noch die Schuhe ihrer Mutter sieht, die an ihr vorbei gehen, beginnt sie sich nach einer Weile in ein Buch zu vertiefen und ist erneut ganz weit weg. In dieser anderen Welt einfach abgetaucht.
Wärenddessen macht sich ihre Mutter zunehmend Sorgen. Auch ihre Vorwürfe sich selbst gegenüber werden immer lauter und als sich der Platz immer weiter leert, da die meisten Menschen schon nach Hause gehen, sucht sie verzweifelt nach ihrer Tochter, kann sie aber nicht finden. Die Stunden vergehen und auch als man ihr endlich glaubt, dass ihre Tochter verschwunden ist und die Polizei ruft, ist Carmel unaufspürbar.
Denn in der Zwischenzeit ist Carmel mit einem Mann fortgefahren, der sich als ihr Großvater ausgegeben hat. Als er behauptet hat, Beth hätte einen Unfall gehabt, steigt sie ohne Zweifel zu hegen in sein Auto und eine lange Reise beginnt.
Wer ist dieser Mann, der Carmel mitgenommen hat? Was hat er mit ihr vor? Und vor allem: Wird Carmel überleben und irgendwann vielleicht sogar ihre Mutter wiedersehen können?
Die Tage, Monate und Jahre verstreichen. Doch glaubt Beth nicht daran, dass Carmel tot ist. Sie sieht ihr Kind in ihren Träumen: Das lockige Haar und den roten Mantel ihrer Tochter. Das Lächeln und die braunen Augen ihres Kindes. In ihren Träumen geht Carmel stets rückwärts.
Beths Leben ist mittlerweile aus den Fugen geraten, denn alle Hinweise, die bei der Polizei eingehen, führen ins Nichts. Eine neue Sichtung von einem Kind im roten Mantel. Eine neue Hoffnung. Und eine neue Enttäuschung. So viele Menschen die helfen wollen, doch niemand der es kann.
Aber Beth bemerkt, dass wenn Carmel sie so sähe, sie ganz und gar nicht glücklich mit ihr wäre. Und so beschließt die noch immer von starken Schuldgefühlen geplagte Beth, selbst zu Handeln. Sie hat das Ziel, Carmel zu suchen und zu finden. Sie will ihr Kind zurück holen und es dann nie wieder alleine lassen. Ihre ewige Fragen zermürben sie: War ich Schuld? Hätte ich mehr auf sie Acht geben sollen?
An einen geregelten Alltag zu denken ist für sie unmöglich geworden. Und auch ihre Ermittlungen führen ins Nichts. Aber Beths Hoffnung bleibt immer. Jeder Zeit.

Selten hat mich ein Buch derart sprachlos zurück gelassen!
Die jedes Kapitel wechselnde Perspektive lässt den Leser genau erfahren, was mit Carmel und ihrer Mutter geschieht, was sie fühlen, welche Ängste und Sorgen, aber auch welche Hoffnungen sie haben.
Sein Kind zu verlieren ist für Eltern das Schlimmste, was geschehen kann und auch für Beth bricht eine ganze Welt zusammen. Es ist furchtbar mit anzusehen, wie sie leidet, sich die Schuld gibt und sich bei der Suche nach Carmel an jedem noch so kleinen Indiz festklammert. Jedes mal, wenn sich eine neue mögliche Spur der Polizei wieder nur als ein falscher Alarm heraus stellt, hat es mir einen Stich versetzt.
Aber auch wie unterschiedlich Beths Umfeld auf das Verschwinden Carmels reagiert ist zum Teil einfach unfassbar. Ob sich Beth anhören muss, Carmel sei nun bei Gott oder dass dies nun mal passiere- es ist einfach unbegreiflich.
Beth muss sich zwischen zwei Möglichkeiten entscheiden: Entweder sie gibt sich weiterhin ihrer Trauer hin und versinkt weiter in ihrem tiefen, dunklen Loch, oder sie sammelt ihre ganze Kraft, um ein neues Leben anzufangen, damit sie das Gefühl bekommt, gebraucht zu werden und etwas gut zu machen.
Auch ihr Kampf, stets optimistisch zu bleiben, nicht einzuknicken, immer an Carmels Leben zu glauben, ist unglaublich.

Auf der anderen Seite wäre da noch Carmels Geschichte. Es war sehr bedrückend zu lesen, wie sie auf den Trick ihres Entführers reinfällt, um ihre Mutter bangt, die laut Entführer einen Unfall gehabt hat, während diese alles in ihrer Macht stehende unternimmt, um ihre Tochter zu finden. Außerdem hat es mich sehr traurig gemacht, als die Methoden des Entführers (und seiner Komplizin) beschrieben wurden, um Carmel an ihn zu binden und sie gleichzeitig von ihrer Verwandtschaft abzuschotten. Er säht so gezielt Zweifel in Carmel, beschert ihr Trauer und macht ihr an anderer Stelle Mut, sodass einem ganz übel wird..
Auch seine Beweggründe haben mich wütend, fassungs- und sprachlos gemacht. Beim Lesen dieses Buches stellte sich oft die Frage, was das für ein Mensch sein kann, der einfach ein Kind mit nimmt, es manipuliert und für seine Zwecke nutzt, als wäre es nur ein Stück Inventar. Die Antwort auf diese Frage wird im Buch gegeben und lässt einem wirklich den Atem stocken..

Dieses Buch ist eines der beeindruckendsten, die ich je gelesen habe! Es ist so unglaublich realistisch geschrieben, dass einem ganz anders wird. Man durchfährt beim Lesen tatsächlich die berühmte Achterbahn der Gefühle und verspürt nicht nur Wut, Fassungslosigkeit, Angst, Unbehagen, Hoffnung, sondern noch so viel mehr.
Bis zum Ende wusste ich nicht, wie es ausgehen wird, da die Täter so unberechenbar erscheinen und einige Irrwege beschrieben werden. Alleine schon die Antwort auf die Frage, ob Carmel überleben wird, hat mich beinahe verrückt gemacht. Unvorstellbar, wie man sich als Mutter eines entführten Kindes fühlen muss..
Darüber hianus ist der Schreibstil sehr packend, sodass man das Buch kaum aus der Hand legen mag.
Am Ende des Buches war ich vollkommen sprachlos und zu Tränen gerührt. Im Verlaufe des Buchs hat man die Beteiligten über Jahre hinweg begleitet, in ständiger Angst um das Kind.

Alles in allem ist dies keineswegs ein Buch für zwischendurch, sondern eines, das einen festhält und nicht mehr los lässt, das einem menschliche Abgründe aufzeigt, das Ängste schürt, aber auch Hoffnung zu lässt. Ein Buch, das einem den Atem raubt und einem zeigt, wie gut man es hat und wie sehr man seine Mitmenschen wertschätzen sollte, da man sie jederzeit verlieren könnte.
Ich kann dieses zermürbende Buch über die unfassbare Verbundenheit zwischen Mutter und Kind allerdings nicht an jeden weiterempfehlen, da es einem schon einiges abverlangt.
Nichtsdestotrotz ist es eines der besten Bücher die ich je gelesen habe! Es ist so unglaublich ergreifend und gleichzeitig so beängstigend realistisch, dass es einem einen kalten Schauer über den Rücken jagt.