Rezension

ein ungewöhnliches, aber gelungenes Debüt

Der Freund der Toten - Jess Kidd

Der Freund der Toten
von Jess Kidd

Bewertet mit 3.5 Sternen

"Mahony hatte vergessen, dass es so sein kann. Das die Einzelheiten manchmal bildhaft zurückkommen und sich ihm einbrennen. Der schwache Glanz auf einer Haarlocke im Nacken eines bis auf die Sehnen durchtrennten Halses. Oder der matte Schwung einer blutleeren Wange über vor Gift bitteren Lippen oder der bleiche Halbmond eines Fingernagels an einer ertrunkenen und aufgedunsenen Hand. /.../ Flüchtige Eindrücke, wenn du es am wenigsten erwartest, wenn du ganz und gar nicht bereit bist. Der plötzliche Schock beim Anblick eines deutlichen Details, dann ein verwischter Fleck, der allmählich verblassst, Bilder zurücklässt wie die Sonne auf der Netzhaut." 

 

 

Unerwartet erhält der Dubliner Hippie Mahony einen versiegelten Umschlag, der seine Lebensgeschichte ins Wanken bringt. Bisher glaubte er, er wäre als vaterloser Bastard im Waisenhaus aufgewachsen, weil seine junge Mutter eine Hure war und ihn nicht gewollt und abgeschoben hat. Doch der Inhalt des Briefes offenbart etwas anderes. Von einer Minute auf die andere ist nichts mehr wie es war. Mahony beschließt herauszufinden, was damals kurz nach seiner Geburt wirklich in seinem Heimatort Mulderigg passiert ist. Doch wird er vor Ort brauchbare Informationen finden? Oder sind alle Erinnerungen 26 Jahre später längst Asche und Rauch? Und was verbirgt sich hinter den "dunkelsten von Mulderiggs dunklen Träumen"?

 

Mulderigg ist ein beschauliches Dorf, indem die Zeit stillzustehen scheint. Ein Ort, am "Arsch der Welt". Seine Bewohner bleiben von Geburt an hier, bis sie sterben. Sie wollen nicht weg und sie mögen keine Fremden. Doch was passiert, wenn mit einem längst vergessenen Bewohner auch die Vergangenheit wieder im Ort auftaucht und die Toten weckt? 

 

Mahony war als Person für mich schnell greifbar. Auch die alte kauzige Mrs. Cauley, die "harmlose geriatrische Spinne", habe ich schnell in mein Herz geschlossen. Die Dorfbewohner beschreiben sie als verrückt. Doch dem Leser wird selbst überlassen, ob die kranke, alte, gebrechliche Lady mit diesem Image nur spielt. Die Autorin Jess Kidd schafft es sofort zu Beginn atmosphärische Bilder und Personen im Kopf des Lesers entstehen zu lassen. Manchmal sind die intensiven Umgebungsbeschreibungen fast etwas viel. Und doch sind sie stimmig und man kann sich ihnen nicht entziehen. 

Was mich sehr betroffen gemacht hat, war die Tatsache, dass einige grausame Geschehnisse wirklich sehr detailiert erzählt wurden. Ich gebe zu, dass ich einige Sätze tatsächlich nur mit halbgeöffneten Augen überfolgen habe. Meine Fantasie lässt einfach zu schnell Bilder in meinem Kopf entstehen, die ich dann nicht wieder loswerde. 

Doch es gibt auch lustige Momente, bei denen ich Schmunzeln musste. Zum Beipsiel als Mrs. Cauley im Gottesdienst furzt und über die Winde redet, die im Dorf aufziehen. Oder über die Kartoffeln, denen vor Lachen die Schale aufplatzte.   

Und natürlich gibt es auch berührende Szenen, zum Beispiel die, in der über Mahonys Mutter Orla erzählt wird, von der keiner weiß, ob ihr etwas Schlimmes zugestoßen oder ob sie tatsächlich abgehauen ist. Ich kann so gut nachvollziehen, wie sich Mahony bei seinen Nachforschungen fühlen muss. Schon immer hat er unter dem Verlust seiner Mutter gelitten; sein Herz ist zerbrochen und er hat nur einen Wunsch: herauszufinden, was damals wirklich passiert ist. 

 

Etwas darf dabei nicht unerwähnt bleiben. Mahony "kommuniziert" mit den Toten. Eine Folge seines Drogenkonsums oder eine Gabe? Das müsst ihr selbst herausfinden. Stellt euch darauf ein, dass es manchmal etwas wirr werden kann. 

 

Das Buch erscheint im Mai 2017 im Dumont-Verlag. Es überzeugt als Hardcover mit Schutzumschlag, Lesebändchen und mit einer angenehmen Schriftgröße. Auch die zwei  Handlungsstränge, die uns immer wieder kurz in die Vergangenheit führen, verwirren den Leser nicht. Wie ein Puzzle setzt sich nach und nach alles zusammen. 

Cover und Titel sind unspektakulär, aber stimmig. Ich mag die Farben und Abbildungen auf dem Einband und bin mir sicher, dass das Buch dadurch in der Buchhandlung sicher ins Auge fallen wird. Diese verschlungenen Pflanzen erinnern mich nach dem Lesen an den undurchdringlichen Wald und ich höre dazwischen das Flüstern der Toten.

 

 

Fazit: 

Ein ungewöhnliches, aber gelungenes Debüt, das mir vor allem durch seine detailierten und athmosphärischen Beschreibungen und seinem poetisch angehauchten Schreibstil im Gedächtnis bleiben wird.