Rezension

Ein ungewöhnliches feministisches Werk, das gemischte Gefühle hervorruft

Die Tanzenden - Victoria Mas

Die Tanzenden
von Victoria Mas

Bewertet mit 4 Sternen

Wow..Ich habe eine ganz andere Geschichte erwartet. So bunt, lebensbejahend und federleicht, wie das eine tanzende Frau zierende Cover, ist der Inhalt nicht. Schon nach dem ersten Kapitel verspürte ich Unbehagen und ein beengendes Gefühl in der Brust. Mir stellte sich die Frage, wohin das einschneidende Setting führen soll und ob ich dem wirklich folgen möchte. Wir befinden uns in der Salpêtrière, in einem Krankenhaus, in dem all  jene untergebracht wurden, die Paris nicht imstande war, zu "bewältigen": die Kranken und die Frauen. Während einige der Geisteskranken in dieser Anstalt tatsächlich an psychischen und neurologischen Störungen litten, zeigten viele von ihnen keine pathologischen Anzeichen. Ihre Familien hatten sie wegen ihres nicht den damaligen gesellschaftlichen Regeln entsprechenden Verhaltens abgelehnt. Aber auch Frauen, die misshandelt wurden, landeten hier, wenn sie als Flittchen anstelle als Opfer angesehen wurden. Jede Frau hat ihre eigene Geschichte, von der man einige wenige erfährt. Diese Zeilen waren schockierend, machten mich traurig und wütend. Diese Frauen verloren ihre Identität und ihr gesamtes Leben nur deshalb, weil es vor allem die Männer entschieden haben. Die Grenze, die überschritten werden muss, um tatsächlich "verrückt" zu werden, ist nur noch verschwindend gering, wenn man in diesen Mauern eingeschlossen, gedemütigt und aller Freiheit beraubt lebt.

 

Als wäre das nicht alles schon schlimm genug, werden sie im Krankenhaus als Versuchskaninchen von einer studentischen Männerschaft in den Vorlesungen lüsternd begafft. Auch der jährlich stattfindende Ball dient nur der Belustigung der Bourgeoisie, denen die "exotischen Tiere" ein wenig Nervenkitzel verschafft in der Hoffnung einen hysterischen Anfall aus nächster Nähe zu erleben - einfach nur widerlich und schäbig. Inmitten dieser Szenarien porträtiert Mas zwei charakterstarke Frauen - Geneviève und Eugénie. Zugegeben Geneviève war mir erst ganz und gar nicht sympathisch, die sich als Kartesianerin mit kaltem Geist der Medizin widmete und Charcot vergötterte. Die Haltung ihr gegenüber veränderte sich im Verlauf der Geschichte drastisch. Es bedurfte erst einer Erschütterung ihrer Grundfesten, dass sie plötzlich auch die Menschen hinter den Verrückten sah und auch zu sich selbst fand.

 

Auch wenn ich etwas anderes erwartet habe, bin ich nicht minder begeistert. Ich kann nicht genau bezeichnen, was mich an dieser Geschichte trotz all der erbarmungslosen Düsternis faszinieren konnte. Es ist wohl die reichhaltige Dokumentation der Autorin, die realistische Einblicke in eine für uns unvorstellbare Zeit eines Paris um 1885 gewährt, eine Zeit des Spiritismus und fragwürdiger Wissenschaft unter Charcot/Babinski, die ebenso wie das Krankenhaus existierten, vor allem aber auch die einfühlsame Begegnung mit den weggesperrten Frauen. Der Roman stimmt sehr nachdenklich über die Anfänge der Psychiatrie, aber auch über das Schicksal der Frauen. Die Autorin wählt wunderbare und kraftvolle Worte inmitten der Trostlosigkeit und Verzweiflung. Sie malt schöne Frauenportraits, Menschlichkeit, Verbund unter den Frauen, die durch ihre ganz eigenen Wunden und gesellschaftliche Ablehnung in einem Gefängnis vereint wurden, das eher einem Zufluchtsort gleicht. Man lernt liebenswerte Frauen kennen: Thérèse, die ein so großes Herz hat oder Louise, ein liebenswürdiges Mädchen, das sich selbst nichts sehnlicher wünscht als echte Liebe zu erfahren. Es ist ein ungewöhnliches feministisches Werk, das patriarchalische Wurzeln nur zu deutlich macht.

 

Auf den ersten Seiten war ich noch skeptisch, aber schließlich habe ich diesen Roman mit großer Freude gelesen. Die Neugierde des Lesers wird durch die Spannung, die die Geschichte durchzieht, angeregt, die, getragen von einer angenehmen und flüssigen Schrift, zu ihrem Ende fließt. Ja, das Cover hat etwas federleichtes und lebensdurstiges. Dies kann man mit dem Wissen um das Ende, was ich hier nicht verraten möchte, in einem anderen Licht betrachten.

 

Mein Lieblingszitat: "Der einzige Zweck dieses Kleidungsstücks [das Korsett] war doch, die Frauen in einer vermeintlich begehrenswerten Haltung zu fixieren - ihnen keine Bewegungsfreiheit zu lassen! Als wären die intellektuellen Fesseln nicht schon genug, musste man sie auch noch körperlich einschränken. Dass die Männer ihnen solche Grenzen auf gezwungen hatten, legte den Gedanken nahe, dass sie die Frauen nicht verachteten, sondern vielmehr fürchteten."