Rezension

Ein ungewöhnliches Internat

Die Schule am Meer - Sandra Lüpkes

Die Schule am Meer
von Sandra Lüpkes

Bewertet mit 3.5 Sternen

Bereits am Cover, auf dem eine verblasste Photographie abgebildet ist, lässt sich das Genre erahnen; zudem stimmen die (Original-)Bilder im Innenumschlag dieses hochwertigen Hardcover-Exemplars die Leserschaft im Vorfeld auf den Romaninhalt ein. Auch eine Skizze des Handlungsortes ist enthalten.

Das Ehepaar Anni und Paul Reiner hatte eine Vision – auf der Nordseeinsel Juist wollten sie eine Schule gründen, in der jedes Kind willkommen sein sollte; eine Lehranstalt, die sich mit innovativen Lehrmethoden auszeichnen, in der jedem Kind die nötige Aufmerksamkeit und individuelle Förderung zukommen sollte. Voller Tatendrang gehen sie ans Werk. Musik nimmt einen hohen Stellenwert ein, ebenso die Verbundenheit zur Natur. Die Lehrer/innen sind jemand, zu dem man aufblickt, von dem man inspiriert wird – keine Schreckenspersonen mit Rohrstock. In diesem reformpädagogischen Inselinternat, das es einst tatsächlich so auf Juist gegeben hat, steht die Gemeinschaft im Vordergrund. Dieser Zusammenhalt ist auch bitter nötig, denn vielen Bewohnern der Insel ist die Tatsache ein Dorn im Auge, dass die Schule als Hort für Juden und Kommunisten gilt.

Zu Beginn habe ich ein klein wenig mit der Vielzahl der Figuren gehadert, es waren tatsächlich einige Namen. Für spätere Ausgaben des Werkes wäre ein Personenregister eine sinnvolle Ergänzung. Erzählt wird abwechselnd aus mehreren Perspektiven – Schulpersonal, Schüler/innen, Insulaner/innen…auch in die Gedanken des Antagonisten taucht man regelmäßig ein. Hierdurch lernt man viele Charaktere gleichermaßen intensiv kennen, sympathisiert mit dem einen oder anderen, während man gewissen Protagonisten am liebsten gehörig die Meinung geigen würde. Insgesamt blieben mir dennoch die meisten von ihnen eher fremd; ihr Schicksal berührte mich zwar, doch wirklich mitgelitten, mitgefiebert habe ich nicht. Meine Favoritin war Anni Reiner, vor dieser Frau muss man einfach Respekt haben. Mit Moskito hingegen wurde ich partout nicht warm. Den größten Teil der Handlung nimmt das Internatsleben selbst ein: die alltäglichen Erlebnisse des Lehrpersonals (wobei der Unterricht selbst eher oberflächlich skizziert worden ist), vor allem aber Freizeiterlebnisse der Schüler/innen stehen im Vordergrund – Mutproben, Freundschaft, erste Liebe… 

Geschichtliche Ereignisse fließen eher am Rande in die Rahmenhandlung ein. Es ist kein rasanter Roman mit unheimlich nervenaufreibenden Passagen – vielmehr erschien es mir, als würde man hier an einem Stück Vergangenheit teilhaben dürfen. Es erinnert mich entfernt an eine Art Familien-Saga. In aller Ruhe beschreibt die Autorin die Inselschönheit, die lokalen Begebenheiten der Schule und des Ortes, lässt uns am Entwicklungsprozess der Charaktere teilhaben. Man muss sich Zeit nehmen für dieses Werk, damit sich dessen volle Wirkung entfalten kann und das ist auch gut so. Der Schreibstil ist gut verständlich, ebenso angenehm wie anspruchsvoll und voller detaillierter Beschreibungen. Es wird deutlich, welch intensive Recherche Autorin Sandra Lüpke betrieben hat; mühelos verknüpft sie wahre historische Hintergründe, Personen, Begebenheiten mit Fiktion. Alles in diesem Roman, von den Dialogen bis hin zur Szenerie, der Inselatmosphäre und den Charakteren wirkt ungemein glaubwürdig und authentisch. Manche Passage des beinahe 600 Seiten umfassenden, in ungewöhnlich lange Kapitel eingeteilten Romans hätten etwas kompakter ausfallen können – oder wären idealerweise zu einer ausführlicheren Schilderung des eigentlichen Schulkonzepts genutzt worden; auch mehr Details zu geschichtlichen Begebenheiten wären möglich und durchaus interessant gewesen, so hätte ich z.B. gerne mehr über den Eiswinter gelesen. Hinsichtlich Waldi ahnte ich von Anfang an, welche Entwicklung folgen würde und fand diese absolut unnötig – musste das wirklich noch sein? Alles in allem überwiegt ein eher schwermütiger Ton, der hier und da durch die wundervolle Sprachkunst der Autorin abgemildert und durch humorvolle Anekdoten etwas aufgelockert wird. Nun ja, immerhin war die Realität damals tatsächlich kein Zuckerschlecken, es waren harte Jahre.

Fazit: Ein auf wahren Tatsachen basierender Internatsroman, der vor einem interessanten geschichtlichen Hintergrund angesiedelt ist. Der Fokus liegt ganz klar auf der persönlichen Entwicklung der Figuren sowie auf dem allgemeinen Internatsalltag - weniger auf dem historischen Aspekt. Ein Aufbau mit ein, zwei Perspektiven weniger hätte wahrscheinlich mehr Nähe zu den verbleibenden Figuren bewirkt. Tolle Grundidee, hervorragende sprachliche Umsetzung, Handlungsinhalt nicht mitreißend, aber unterhaltsam.