Rezension

ein unglaublich tolles Buch, das jeder gelesen haben sollte!

Der Vorleser
von Bernhard Schlink

Bewertet mit 5 Sternen

Michael Berg ist 15 und ein ganz normaler Junge mitten in der Pubertät, als er plötzlich krank wird. Auf dem Nachhauseweg von der Schule muss er sich übergeben. Hanna Schmitz, 21 Jahre älter als er, sieht die Bescherung und hilft Michael, sich zu säubern. Sie steckt ihn sogar in die Wanne, was ihm zwar ein wenig unangenehm ist, wo er aber zu schüchtern ist, großartig zu protestieren. Bei Michael wird eine Gelbsucht diagnostiziert und er muss monatelang das Bett hüten. Als er wieder auf den Beinen ist, will er sich bei Frau Schmitz bedanken, und sucht sie mit einem Blumenstrauß in der Hand auf.

Zwischen den beiden entspinnt sich eine seltsame Beziehung. Michael ist fasziniert von der älteren Frau, die ihn nicht wie einen kleinen Jungen behandelt und ihn ernst nimmt - und die irgendetwas an sich hat, was so ganz anders ist. Und es entwickelt sich etwas Erotisches zwischen ihnen, wobei das Vorlesen eine entscheidende Rolle spielt. Über mehrere Jahre haben die beiden eine Liebesbeziehung miteinander. Dann ist diese plötzlich beendet, denn Hanna ist von einem Tag auf den anderen verschwunden, einfach aus ihrer Wohnung ausgezogen und für Michael nicht mehr auffindbar.

Michael schließt seine Schule ab und beginnt ein Jura-Studium. Im Rahmen des Studiums nimmt er an einem Seminar teil, in dem es um KZ-Prozesse geht. Speziell ein Prozess, der gerade anfangen soll, soll von den Studenten begleitet werden. Michael fällt aus allen Wolken, als er Hanna auf der Anklagebank sitzen sieht. Sie soll mit anderen KZ-Wärterinnen Insassen sortiert und damit bestimmt haben, wer getötet wird und wer noch arbeitsfähig ist und weiter leben darf. Als das KZ geräumt wurde, weil die Alliierten zu nah kamen, hätten sie die Insassen eines Nachts in eine Kirche gesperrt. Als die Kirche dann abbrannte, hätten sie niemanden gerettet, hätten die verschlossenen Türen nicht geöffnet, sondern nur zugesehen.

Michael besucht den Prozess an jedem einzelnen Verhandlungstag und wundert sich lange über Hannas Verhalten - sowohl damals wie auch jetzt im Prozess. Es dauert recht lange, bis er hinter ihr Geheimnis kommt. Und es stürzt ihn in einen inneren Konflikt, weil er nicht weiß, wie er sich nun verhalten soll. Das Geheimnis hätte entscheidenden Einfluss auf das Urteil, aber Hanna will es wohl nicht offenbaren. Darf er sich über diesen Entschluss hinweg setzen?

 

Es ist nun schon einige Wochen her, dass ich das Buch gelesen habe. Direkt nach der letzten Seite habe ich nicht gewusst, was ich schreiben sollte, wie ich es einordnen sollte. Dies ist wirklich eines der wenigen Bücher, über die ich noch eine ganze Weile drüber nachgedacht habe, denn es bietet eine Reihe von Themen, die einigen Zündstoff bieten.

Da ist zum einen die erotisch-sexuelle Beziehung zwischen Hanna und Michael. An sich stehe ich auf dem Standpunkt, dass so eine Beziehung zwischen einem Minderjährigen und einem sehr viel älteren Erwachsenen nicht richtig ist, denn die Unterschiede sind zu groß und die Überlegenheit des Erwachsenen ebenfalls, sodass es keine gleichberechtigte Beziehung sein kann, sondern der Minderjährige nur ausgenutzt wird. Zwischen Michael und Hanna ist jedoch eine relativ gleichberechtigte Beziehung entstanden. Hanna nutzt Michael nicht aus, auch wenn sie die an sich Überlegene ist und es ihn auch ein paar Mal spüren lässt, als er plötzlich Forderungen stellt. Da sagt sie ihm, dass er auch einfach gehen könne. Zunächst tut die Beziehung Michael dann auch gut. Er wird selbstbewusster in der Schule und ist kein Niemand mehr. Doch im späteren Leben dann zeigt sich, dass Michael kaum in der Lage ist, eine "normale" Beziehung mit einer Frau zu führen. Ob dies aber nun an dem Altersunterschied und der frühen ersten Beziehung zu einer älteren Frau gelegen hat oder einfach daran, dass er Hanna wirklich liebte und danach einfach keine Frau mehr an diesen Idealzustand heran kam, bleibt unklar.

Das eigentlich Faszinierende ist jedoch die Erzählweise. Ich habe selten einen Roman gelesen, der so feinfühlig erzählt, wie zwei Menschen miteinander umgehen und sich lieben. Es wird alles aus der Sicht von Michael geschildert, der diesen Roman rückblickend erzählt. Und ganz filigran erzählt er immer wieder kleine Aspekte, die mir als Leser aber einen guten Einblick ins Gesamtgeschehen gegeben haben. Es wird also nicht einfach platt etwas vom Akt zwischen beiden erzählt, sondern eben behutsam das Drumherum, sodass man sich den Rest denken kann. Ich finde diese Art des Erzählens einfach großartig! Jedes Wort war mit großem Bedacht ausgewählt und alle Worte zusammen ergaben eine großartige Schilderung einer einzigartigen Liebe und Beziehung zweier Menschen zueinander. So nüchtern die einzelnen Worte klingen, so gefühlvoll wirken sie im Zusammenspiel. Ich gestehe, dass ich hier gar nicht so viele Superlative finde, um auch nur annähernd auszudrücken, wie viel Spaß es machte, von der Beziehung der beiden zu lesen und wie viel Liebe in den Worten lag.

Ein weiteres Thema, das mich sehr nachdenklich gemacht hat, ist die Frage, die sich auch Michael stellen muss, als er Hannas Geheimnis entdeckt. Hat er das Recht, das Geheimnis aufzudecken und ihr damit einen Großteil der Strafe zu ersparen? Er ist in diesem Fall der Überlegene, denn er weiß. welche juristischen Folgen das Schweigen haben kann. Hat er vielleicht sogar die Pflicht, das Geheimnis zu offenbaren, um ein Fehlurteil zu verhindern? Nachdem Hanna die Schuld in einem Punkt auf sich nimmt, um ihr Geheimnis zu bewahren, wälzen die Mitangeklagten nämlich auch in anderen Punkten die Schuld auf sie ab. Michael erkennt dies, aber weder Hanna noch ihr unerfahrener Pflichtverteidiger unternehmen etwas dagegen. Oder muss Michael sich Hannas Entscheidung beugen, die offenbar unter allen Umständen ihr Geheimnis bewahren will?

Ich fand auch toll, dass das Buch danach noch weiter erzählt wurde. Man erlebt also noch mit, wie es zwischen den beiden über viele weitere Jahre sich weiter entwickelt. Ich fand diese Erzählung auch sehr schön, denn sie zeigt, welch tiefe Gefühle Michael für Hanna hat. Und außerdem hätte ich ein Ende nach dem Urteil wohl doch zu abrupt gefunden. So hat die Geschichte dann Jahre später ein Ende, was mir zwar nicht gefiel, aber was zu der ganzen Geschichte doch irgendwie passte.

Mir gefiel auch noch ein weiterer Aspekt an dem Buch, auf den ich erst im Nachhinein gekommen bin: An keiner Stelle wird der moralische Zeigefinger erhoben oder etwas verurteilt. Hanna wird in der Erzählung nicht vorverurteilt, weil sie als KZ-Wärterin gearbeitet hat oder weil sie mit einem Minderjährigen schläft. Dem Leser wird es ganz und gar selbst überlassen, sich eine Meinung zu bilden, indem auch erzählt wird, wie es dazu kam. Dass Hanna sich strafbar gemacht hat in ihrer Funktion als KZ-Wärterin, steht außer Frage - aber hier wird eben auch erzählt, wie es dazu kam und wie Hanna in diese Situation geraten ist. Hanna (und damit auch andere Betroffene) wird nicht entschuldigt, aber es wird erklärt, wie es so kommen konnte. Dieser gefühlvolle Umgang mit dem Thema hat mich auch sehr angesprochen.