Rezension

Ein Unterhaltungsroman mit vielen Themenschwerpunkten

Die verschwindende Hälfte - Brit Bennett

Die verschwindende Hälfte
von Brit Bennett

Bewertet mit 4 Sternen

Die vielen Arten einander fremd zu sein

„Die Menschen glaubten, man wäre etwas Besonderes, wenn man einzigartig war. Dabei war man einfach nur einsam. Was einem zu etwas Besonderem machten, war Zugehörigkeit.“

Inhalt

Die beiden Zwillingsschwestern Desiree und Stella sind ein unschlagbares Team, immer sieht man sie zusammen und kann sie nur schlecht auseinanderhalten. Eines Tages aber sind sie einfach verschwunden aus ihrem kleinen Heimatort Mallard in Louisiana. Zunächst brodelt die Gerüchteküche, doch die Gespräche über den Abzug der Zwillinge werden weniger und verstummen schließlich ganz. Erst nach vielen Jahren kehrt Desiree zurück, doch nicht mit ihrer Schwester, sondern mit einem Kind, noch dazu eines welches eine so schwarze Hautfarbe hat, wie es sie in Mallard schon ewig nicht mehr gibt. Doch Stella bleibt verschollen, niemand hat mehr etwas von ihr gehört und es müssen weitere 20 Jahre vergehen, bis es sich ändern wird. Denn während Desiree mittlerweile die alternde Mutter pflegt, hat ihre dunkelhäutige nun erwachsene Tochter Jude eine furiose Entdeckung gemacht: Bei einem Empfang begegnet ihr das Ebenbild ihrer Mutter, nur lebt diese Frau in gut situierten Verhältnissen, hat eine weiße Tochter und einen gebildeten Mann. Jude setzt alles daran herauszufinden, ob sie hier tatsächlich auf ihre Tante und deren neue Familie gestoßen ist und sie möchte gerne wissen, warum es zwischen Desiree und Stella keine Gemeinsamkeiten mehr gibt, außer ihrer äußerlichen Ähnlichkeit …

Meinung

In ihrem aktuellen Roman widmet sich die südkalifornische Autorin Brit Bennett gleich einer ganzen Reihe grundlegender Probleme der amerikanischen Bevölkerung, angefangen von Vorurteilen bezüglich der Hautfarbe, über die daraus resultierende Diskriminierung und den Wunsch zu einer Gemeinschaft zu gehören, aber auch das nachhaltige Zerbrechen einer Familie, in der die eine Generation für die nächste nicht mehr jenen Stellenwert besitzt, wie zuvor. Lügen, Abschiede und der immer wieder unterdrückte Wunsch alte Verletzungen zu heilen, indem man sich mit der Vergangenheit auseinandersetzt, sind ebenso Bestandteil der Handlung wie die Entwicklung zweier Mädchen, die ihren Müttern mit Skepsis und Zweifeln entgegentreten. Prinzipiell ist das ein umfassender, differenzierter Handlungsschwerpunkt, der jedoch sehr viele Ansatzpunkte besitzt und im Laufe der Erzählung verliert sich die Story in einigen Nebensächlichkeiten, wirkt manchmal zu unentschlossen und mäandernd, obwohl gerade die Kernaussage der Geschichte viel mehr Gewichtung verdient hätte.

Sehr positiv zu beurteilen ist die Charakterzeichnung der verschiedenen Figuren, denn diese ist nicht nur intensiv und aussagekräftig, sondern auch angepasst an die Handlung, die sich über einige Jahrzehnte erstreckt. Von den Müttern und ihrer besonderen Beziehung zueinander, rücken nun ihre Töchter ins Zentrum des Geschehens und auch deren Veränderungen über die Jahre, hin zu erwachsenen Frauen, die sich ebenfalls in ihrem Leben behaupten müssen, wenn auch unter ganz anderen Gesichtspunkten. Tatsächlich kann man hier mit jeder Figur Empathie empfinden, es sind ihre Verstrickungen untereinander, die Diskrepanz zwischen verschiedenen Hautfarben ist dabei zwar greifbar aber längst nicht der einzige Grund, warum sich die Frauen der Geschichte hier voneinander distanzieren und ihre Wege zum Ziel sind ebenfalls ganz differenziert zu betrachten. Gerade der Erzählstrang, warum sich Mütter und Töchter so ganz anders verhalten, vollkommen andere Prämissen für ihre Lebensgestaltung ansetzen und sich dennoch immer wieder fragen, warum das so ist, hat mir ausgezeichnet gefallen.

Dennoch bleibt dieser Roman für mich irgendwo stecken, eben weil er so viele Schlangenlinien verfolgt, die insgesamt zwar gut unterhalten, aber längst nicht so stark fesseln, wie ich mir das gewünscht hätte. Da gibt es den Lebensgefährten von Desiree, der sich als Privatdetektiv in der Weltgeschichte herumtreibt, um immer wieder zurückzukehren zu der Frau, die er schon seit Jahren liebt. Oder den Freund von Jude, der als Mädchen geboren wurde und sich nun über die Jahre zum Mann umoperieren lässt, sobald er es sich leisten kann – diese kleinen Ausflüge sind zwar interessant, führen in meinen Augen aber zu weit weg von der Kernhandlung, die immer mehr ins Abseits gedrängt wird. Viel lieber hätte ich noch mehr über Adele, die Mutter von Desiree und Stella erfahren, über ihr Leben in all den Jahren, ohne die Zwillinge und letztlich nur mit einer der beiden Töchter. Erst auf den letzten Seiten kommt die Autorin darauf zurück, dieser Passus war mir zu schwach ausgearbeitet.

Fazit

Ich vergebe 4 Lesesterne für einen gut geschriebenen Roman über die Problematik verschiedener Hautfarben, über schwierige Mütter-Töchter-Beziehungen und letztlich über die Entwicklung ganzer Generationen, die zwar immer etwas Neues bewältigen müssen, die aber dennoch alle im gleichen Boot sitzen. Brit Bennett sensibilisiert den Leser für verschiedene Menschen, mit unterschiedlichen Interessen und Herangehensweisen, sie zeigt, das Verwandtschaft allein kein Garant für jedwede Beziehungsebene ist und das familiärer Zusammenhalt dennoch eine enorme Stütze sein kann, wenn das Leben sich wieder einmal von seiner erschreckenden Seite zeigt. Hätte sie sich mehr auf eine Linie festgelegt als so zahlreiche Fäden aufzunehmen, wäre meine Beurteilung sicher noch besser ausgefallen. Wer aber etwas darüber lernen möchte, wie viele Arten es gibt, sich einander fremd zu sein oder zu werden, der wird hier genau den passenden literarischen Text finden – die Interpretationsebene hingegen bleibt verhältnismäßig schwach ausgeprägt.