Rezension

Ein unzuverlässiger Erzähler

Die Rache ist mein -

Die Rache ist mein
von Marie Ndiaye

Bewertet mit 2 Sternen

Der Vorhang fällt und alle Fragen offen: Mit ihrem Buch "Die Rache ist mein" gelingt es Marie NDiaye, ihre Leser ganz gewaltig vor den Kopf zu stoßen. Denn am Schluss des Buches ist nichts aufgeklärt, nichts mehr eindeutig. Marie NDiaye beherrscht das Spiel mit dem unzuverlässigen Erzähler meisterhaft. 

Als Leser klammert man sich zunächst an Maître Susane, eine Rechtsanwältin in Bordeaux. Sie wird beauftragt, eine Frau zu verteidigen, die ihre drei Kinder umgebracht hat. Das allein schon verwundert, da Susane alles andere als eine erfolgreiche Rechtsanwältin ist. Ihre Anwaltskanzlei läuft schlecht. Wenn sie mit ihrem klapprigen Auto ihre Eltern besucht, parkt sie es in einer Nebenstraße. Überhaupt macht sich Susane wahnsinnig viele Gedanken, was andere in ihre Worte hineinlesen könnten. Sie ist alles andere als selbstsicher, verstellt sich - auch im Umgang mit ihrer Haushälterin, für die sie eine Aufenthaltsgenehmigung erreichen will. 

Den Vornamen von Maître Susane erfahren wir nicht. H... heißt es an einer Stelle im Roman - wohl wissend, dass das H im Französischen nicht ausgesprochen wird. Und so bleibt Susane rätselhaft. Mal gibt sie sich besorgt, mal versteigt sie sich in wirre Gedankenspiele darüber, ob das Kind ihres Ex-Mannes nicht doch von ihr sein könnte - weil ihre Eltern das Mädchen so sehr mögen. Der Sprachstil wirkte auf mich eher "stolprig", ich kam nicht leicht ins Buch hinein. 

Und dann ist da noch ihr Fall: der Kindsmord. Trotz aller Gespräche mit der Frau und ihrem Ehemann bleibt das Motiv bis zuletzt offen. Dafür macht sich Susane permanent darüber Gedanken, ob sie den Ehemann kennt - ob er ihr vor 32 Jahren einmal begegnet ist, als sie noch ein junges Mädchen war. Ist womöglich etwas Anstößiges passiert, so wie Susanes Vater es andeutet? Oder gehört das in das Reich der Fantasie? Und was hat es mit dem Überfall auf Susane auf sich, als sie die Heiratsurkunde für ihre Haushälterin besorgen wollte? Gab es ihn überhaupt? Und wenn ja: wer hat ein Interesse daran außer ihr? 

Für mich bleibt offen, was das Buch sein will - so es überhaupt etwas sein will. Ein Buch vielleicht über die Konstruktion von Wahrheit? Über die Zerbrechlichkeit unserer Welt? Ein Buch darüber, dass wir es wagen müssen, in unserem Leben manches offen zu lassen? Ein Buch über die Justiz, deren Ziel gar nicht die Wahrheitsfindung ist, sondern der Kampf um die beste Verteidigungsstrategie? Ein Buch darüber, dass wir nicht plausiblen Antworten vertrauen sollen? Und was hat es überhaupt mit dem Titel des Buches auf sich? Wessen Rache? Der Mutter? Der Anwältin? Oder wie? 

Ach, man weiß es nicht. Für mich bleibt im Roman viel zu viel offen, viel zu viel im Ungefähren, als dass ich vom Lesen einen Gewinn gehabt hätte. Alles verschwimmt einfach mehr und mehr.