Rezension

Ein wunderbarer Erzähler

Emily, allein - Stewart O'Nan

Emily, allein
von Stewart O'Nan

Bewertet mit 4.5 Sternen

Emily und ihre Schwägerin Arlene fahren einmal in der Woche gemeinsam zum Frühstücken, an dem Tag, an dem die Rabattcoupons des Restaurants in der Zeitung erscheinen. Die beiden alten Frauen wirken dabei wie ein altes Ehepaar, das außer festen Riten keinen Lebensinhalt mehr hat. Arlene fährt; denn das Auto, das Emilys Mann hinterlassen hat, staubt seit Jahren in der Garage vor sich hin. Eigentlich dürfte Emily schon lange nicht mehr zu Arlene ins Autos steigen, die unkonzentriert fährt und gesundheiltich angeschlagen wirkt. Doch wie sollte Emily ohne Arlene aus dem Haus kommen? Bei einem der Frühstücke erleidet Arlene eine Art leichten Schlaganfall und wird einige Tage zur Beobachtung im Krankenhaus behalten. Emily ist ohne Arlene plötzlich von der Welt abgeschnitten und fällt eine folgenreiche Entscheidung - sie kauft sich ein kleines Auto, das sie selbst bewältigen kann. Unglaublich, dass eine achtzigjährige Frau, die sich diese Anschaffung leisten kann, sich vor anderen dafür rechtfertigen muss. Die Besuche im Krankenhaus haben Emily neue Kontakte eingebracht und gezeigt, in welch überschaubarem Umfeld sie bisher gelebt hat. Emilys Kinder leben weit entfernt und sehen den Kontakt zu ihrer Mutter als lästige Verpflichtung. Das familiäre Minenfeld einer alkoholkranken Tochter und einer ungeliebten Schwiegertochter lässt sich nach außen nur notdürftig verdecken. Rhetorisch bemühte Erkundigungen, ob die Kinder zu Weihnachten oder zu Thanksgiving zu Besuch kommen, wirken in Emilys Situation als reine Provokation. Außer Arlene, ihrer Putzfrau Betty und dem Hund Rufus hatte Emily keine Gesprächpartner. Kleinigkeiten, wie die geheimnsivolle Zahl, die jemand vor Emilys Grundstück auf die Straße gesprüht hat, türmen sich in ihrem geordneten kleinen Leben leicht zu Riesenproblemen auf. Der Freundeskreis der beiden Frauen schrumpft durch Todesfälle ständig; Beerdigungen, Emilys Testament und die Planung ihrer eigenen Trauerfeier sind Emily wichtig. Sie lebt ein Leben auf Abruf und ahnt, dass auch sie eines Tages im Haus stürzen könnte und dann dort nicht mehr allein leben kann. Auch wenn zu Beginn des Buches Emily schon am Ende ihres Leben angekommen zu sein schien, erleben die beiden Frauen durch das neue Auto eine zweite Jugend.

Stewart O'Nan, in dessen Geburtsstadt Pittsburgh der Roman spielt, reiht viele kurze, banale Alltagserlebnisse aneinander, die als Gesamtbild Emily in einem überraschend erfüllten Leben zeigen. O'Nans hinreißend exakt beobachtete Details aus dem Leben der beiden alten Menschen zeigen ihn auch in diesem Buch als wunderbaren Erzähler.